Denen, die immer da sind, wenn es darauf ankommt:

meinen Töchtern, Heidi Lensing, Michaela Schreiber, Heinz Meloth

Und in Dankbarkeit all denjenigen, die sich von meinen Worten inspirieren lassen

Inhaltsverzeichnis
»Einstiegsgedanken«
1. Achtsamkeit – das Heilmittel gegen emotionalen Durchfall
2. Was meine ich mit »Achtsamkeit«?
3. Einstieg in die Achtsamkeitspraxis
4. Achtsamkeitsübungen
5. Zwischencheck: Sind Sie auf dem richtigen Weg?
6. Achtsamkeit to go für jede Gefühls-und Lebenslage
7. »Vipassana«
Über die Autorin
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»Einstiegsgedanken«

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich freue mich sehr, dass Sie sich in Achtsamkeit üben möchten, und es ist mir eine Herzensangelegenheit, Sie dabei nach Kräften zu unterstützen.

Wissen Sie, jahrzehntelang litt ich unter einem fiesen Problem: Ich bekam bei jeder Gelegenheit »emotionalen Durchfall«; ich konnte meine Gefühle kaum steuern und wurde von Emotionen wie Wut, Trauer, Neid auch dann gefangen genommen, wenn es viel sinnvoller gewesen wäre, sachlich und fokussiert zu bleiben. Und oft war ich ganz erschöpft von diesem energieverschwendenden Problem. Es hat lange gedauert, bis ich überhaupt gemerkt habe, dass vieles an dem, was mich stresste, einfach nur »hausgemacht« war. Achtsamkeitstechniken haben mir geholfen, bei mir und gelassen zu bleiben, statt ständig außer mich zu geraten.

Was auch immer Sie in Ihrem Leben noch besser in den Griff bekommen möchten, ich behaupte aus leidvoller Erfahrung: Achtsamkeit ist die Lösung! Und fantastischerweise ist sie einfach, kostenlos, immer und überall machbar!

In diesem Büchlein habe ich Ihnen alles zusammengefasst, was Sie brauchen, um in die Achtsamkeitspraxis einzusteigen oder sie weiter auszubauen. Und wenn Sie dann Feuer gefangen haben, möchten Sie Ihre vielleicht noch etwas vertiefen; meinen kleinen Erfahrungsbericht zu einem Vipassana-Retreat, das ich Ihnen übrigens sehr ans Herz legen möchte, finden Sie am Ende des Buches.

Zunächst werde ich Sie aber langsam in das Thema einführen und wir prüfen gemeinsam, wo Sie momentan in puncto »Achtsamkeit« gerade stehen. Und dann geht es auch schon los mit den Übungen!

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Zähmen Ihrer Emotionen und dem Erleben der zahlreichen weiteren positiven Effekte auf Ihr Leben.

Herzliche Grüße

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Katharina Maehrlein

P.S.: Und wenn Sie stecken bleiben oder ein Feedback zu Ihren Erfahrungen loswerden möchten, melden Sie sich bitte gerne bei mir! Ich freue mich auf Ihre Kontaktaufnahme unter mail@katharina-maehrlein.de.

1. Achtsamkeit – das Heilmittel gegen emotionalen Durchfall

»Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum hat der Mensch die Freiheit und die Fähigkeit, seine Reaktion zu wählen. In diesen Entscheidungen liegen unser Wachstum und unser Glück.«

Viktor Frankl

Eine große Familienfeier steht an. Sie sitzen gemeinsam am Küchentisch und überlegen, was an Speisen und Getränken angeboten werden soll, wer wo zum Übernachten untergebracht wird. Und dann sagt die Dame Ihres Herzens: »Deine Mutter wird sowieso wieder am Essen herumnörgeln, egal was wir uns überlegen.« Ha, das war ja klar, dass dieses Thema wieder zur Sprache kommt. Entrüstet springen Sie von Ihrem Stuhl auf und brüllen: »Was soll denn das heißen? Du suchst doch nur wieder einen Grund für Streit! Du würdest die ganze Feier am liebsten absagen, das hab ich mir gleich gedacht!« Das lässt Ihre Gemahlin natürlich nicht so im Raum stehen, ein Wort gibt das andere, und der Haussegen hängt für die nächste Zeit ordentlich schief.

Sie kennen das sicherlich: Jemand drückt bei Ihnen verbal einen »Knopf«, trifft damit einen empfindlichen Punkt – und schon geht es los: Sie reagieren wütend, beleidigt oder gar nicht mehr. Vollautomatisch. Denn Sie befinden sich gerade in einer Situation, die in Erinnerung an eine vergleichbare Gelegenheit ruckzuck ein bestimmtes Verhalten in Ihnen auslöst: Rückzug, Aggression oder Passivität, wo Anpacken gefragt wäre, oder wilden Aktionismus, wenn eine behutsame Vorgehensweise sinnvoller wäre. Auf einen Reiz – das kann ein Gedanke, eine Erinnerung, ein Wort, ein Blick oder ein Grinsen zur falschen Zeit sein – folgt reflexartig Ihre unmittelbare Reaktion.

Freitagabends in der Schlange an der Supermarktkasse: Sie sind müde und genervt, weil Sie nach der Arbeit noch einkaufen gehen müssen, wollen nur noch nach Hause. Nervös treten Sie von einem Bein auf das andere. Und dann das: Die Kassiererin hält mit der Kundin direkt vor Ihnen ein Schwätzchen: »Sag mal, Annegret, wo lässt du denn deine Fingernägel machen? Also das sieht ja toll aus!« Das gibt’s doch wohl nicht! Sie sehen rot. Und es bricht aus Ihnen heraus: … (Das Folgende überlasse ich Ihrer Fantasie :-))

Das passiert uns Menschen oft: Ohne dass wir noch darüber hätten nachdenken können, ob diese Reaktion wirklich sinnvoll ist oder nicht, geben wir unseren Impulsen nach, die wir dann wie ferngesteuert und völlig mechanisch in Handlungen umsetzen.

Die Lücke zwischen Reiz und Reaktion

Dabei besitzen wir eine einzigartige Fähigkeit, die uns essenziell von den Tieren unterscheidet: die Fähigkeit, die Lücke zwischen einem auf uns einwirkenden Reiz und unserer Reaktion darauf zu erkennen und den Abstand zwischen diesem Reiz und unserer Reaktion bewusst zu vergrößern.

So können wir uns einen Freiraum, eine Atempause schaffen, in der wir mit klarem Geist aus einer Vielzahl von Handlungsoptionen wählen können: Wir müssen nicht absolut spontan und »blind« vor Wut oder Enttäuschung reagieren. Diese Wahlfreiheit, die uns die Lücke zwischen Reiz und Reaktion lässt, ist grundlegend für ein selbstbestimmtes Leben: ein hohes Maß an Vertrauen in die eigene Fähigkeit, aus sich selbst heraus eine Situation ins Positive verändern zu können und nicht einfach blindlings oftmals alles noch zu verschlimmern.

»Emotionaler Durchfall«

Ich nenne das Nicht-Wahrnehmen dieser Lücke und die daraus resultierende Reaktion einen »emotionalen Durchfall«. Sobald uns ein Reiz-Auslöser erreicht, der stark genug ist, uns »blind« zu machen, setzt sich ein Mechanismus in Gang: Wir steigern uns in die Situation hinein, verlieren Unmengen an Energie und können unsere Gefühle nicht mehr stoppen. Es »fließt« einfach nur so aus uns heraus. Klare Gedanken sind nicht mehr zu fassen.

Denken Sie nur an Ihren letzten Streit, oder an den Ihres besten Freundes, Ihrer besten Freundin: Haben die »Durchfallaktionen« sinnvoll zur Wiederherstellung des Friedens beigetragen? Oder waren sie eher nutzlos bis sogar schädlich? Ich vermute eher Letzteres …

Und häufig ärgern oder schämen wir uns über diesen unseligen Durchfall spätestens dann, wenn wir wieder klar denken können und feststellen, dass wir den unbedachten Strom unserer Worte und Aktionen nicht mehr zurücknehmen können.

So wie Maria. Eines Tages bringt sie ihre Töchter zu den Schwiegereltern. Beim gemeinsamen Kaffeetrinken kippeln die Kinder auf ihren Stühlen, trommeln mit den Händen auf dem Tisch herum und unterbrechen laut lachend das Gespräch der Erwachsenen immer wieder. Maria ruft ihre Kinder zur Ordnung. Die Schwiegermutter sagt: »Ach lass sie doch, es sind doch Kinder« und streicht den Mädchen über den Kopf, nachdem sie ihnen noch ein Stück Kuchen auf den Teller gegeben hat. Maria sagt nichts dazu, ärgert sich stumm, lächelt nur hilflos. Die Kinder fangen an, den Kuchen auf ihrem Teller mit den Händen zu zermanschen. Maria bittet sie, damit aufzuhören. Jetzt schaltet sich auch der Schwiegervater ein: »Maria, nun sei doch nicht so streng, das macht doch nichts.« Und die Schwiegermutter: »Genau, lass sie doch spielen, die Kleinen.« Da kann sich Maria nicht mehr halten und es platzt aus ihr heraus: »Immer fallt ihr mir in den Rücken! Und ihr habt mich noch nie ernst genommen! Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass ihr euch an meine Erziehungsregeln haltet, ganz im Gegenteil, ihr verzieht die Kinder! Ich nehme jetzt meine Töchter mit und ihr werdet sie nie wieder sehen!!!«

Es gibt ein wirksames Mittel gegen diesen emotionalen Durchfall: Achtsamkeit. So wie Kohletabletten gegen Diarrhö wirken, so wirken auch kleine Dosen Achtsamkeit, eingebaut in Ihr tägliches Leben: Sie können damit dem unkontrollierten Fluss etwas entgegenhalten, Sie lernen, sich selbst zu steuern, Sie nehmen den Verlauf Ihrer Reaktion bewusst in die Hand. Sie können Abstand nehmen von diesen »automatischen« Handlungen und Ihre Emotionen in den Griff bekommen, damit der »Gaul« nicht mehr so schnell mit Ihnen durchgeht.

Dieses Heilmittel »Achtsamkeit«, völlig umsonst und frei von Nebenwirkungen, können Sie selbst erzeugen und sich selbst verabreichen.

In diesem Workbook zeige ich Ihnen, wie das funktioniert, und stelle Ihnen praktische Übungen vor, die Sie sofort ausprobieren und anwenden können und mit denen Sie all den unangenehmen Emotionen Ihres privaten und beruflichen Alltags mit Gelassenheit begegnen können. Lesen Sie das folgende Kapitel, um einen Überblick darüber zu erhalten, was Achtsamkeit eigentlich ist und wo und zu was genau sie Ihnen nützt. Im dritten Kapitel geht es dann schon los mit der Praxis: Ich gebe Ihnen Tipps, wie Sie die Übungen am besten durchführen, und übe mit Ihnen im vierten Kapitel die grundlegenden Kompetenzen, auf denen aufbauend Sie die für Sie besten Achtsamkeitsübungen dann durchführen können. Im fünften Kapitel lassen wir kurz Revue passieren, wie weit Sie mit Ihren Achtsamkeitsübungen schon gekommen sind, und ich verrate Ihnen, warum sogar scheinbar misslungene Praxis gut für Sie ist. Im sechsten Kapitel schließlich finden Sie »Achtsamkeit to go«-Übungen, die Sie ohne zusätzlichen Zeitaufwand in Ihren Alltag einbauen können immer dann, wenn Sie eine Extraportion innere Kraft brauchen, an jedem Ort, an dem Sie sich befinden. Sie erlernen einfache Übungen, wie Sie Ihre Emotionen in den Griff bekommen, und finden für jede Gefühls- und Lebenslage eine für Sie passende Übung – je nachdem, bei welchen Gefühlswallungen Sie lieber bei sich bleiben wollen, statt außer sich zu geraten: wenn es mal wieder hoch hergeht und Sie nur noch genervt sind, wenn Sie furchtbar aufgeregt sind, wenn Sie sich ärgern, zu viel grübeln … Dort finden Sie auch Anregungen, wo Achtsamkeit überall im Alltag praktiziert und geübt werden kann: beim Kochen, unter der Dusche, auf dem Weg zur Arbeit …

Lassen Sie uns aber zunächst wie angekündigt klären, was unter »Achtsamkeit« eigentlich zu verstehen ist.

2. Was meine ich mit »Achtsamkeit«?

Achtsamkeit ist im Grunde einfach. Sie ist leicht zu verstehen, und wir alle können sie leicht im Inneren entstehen lassen. Jeder Mensch erlebt auch ohne irgendeine Form von Übung immer wieder Momente der Achtsamkeit in seinem Leben: wenn er zufrieden ist mit sich und der Welt, sich mit voller Aufmerksamkeit auf das Jetzt fokussiert, voll von innerer Ruhe und Klarheit.

Unter »Achtsamkeit« verstehe ich die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf den jeweils aktuellen Moment. Das »Ganz-im-Hier-und-Jetzt-Sein«. Achtsamkeit bedeutet für mich, alles, uns selbst und unsere Umgebung, bewusst wahrzunehmen. Wer sich darum bemüht, ist automatisch in der Gegenwart und macht sich weder um die Vergangenheit noch um die Zukunft Sorgen.

Das Besondere: Diesen Moment, das Jetzt, gilt es gleichmütig zu beobachten, ohne ihn in die Kategorien »gut« oder »schlecht« einzuteilen. Es gilt, Dinge so anzuschauen, als sähen wir sie zum ersten Mal, unvoreingenommen und mit offenen Augen. Erst wenn wir lernen, diese Dinge nicht sofort in die Kategorie »für die Zukunft nützlich/ schädlich« oder »schlechte/ gute Erfahrung in der Vergangenheit damit gemacht« einzuordnen, sondern sie einfach nur wahrzunehmen, befinden wir uns im Augenblick – in der einzigen Zeit, in der wir leben können.

Und das ist die Essenz der Achtsamkeitspraxis: Sie entwickeln den Standpunkt des »inneren Beobachters«, der unvoreingenommen und wohlwollend in die Welt schaut und alles, was ihm begegnet, mit der Haltung: »Es ist, wie es ist« wahrnimmt und akzeptiert. Wenn Sie Situationen akzeptieren, folgt daraus ganz automatisch die Fähigkeit, auch unter großem Druck ruhig zu bleiben, einen »klaren Kopf« zu behalten und sich zu beherrschen.

Damit öffnet uns Achtsamkeit die Tür zu einer grundsätzlich positiven Perspektive und wirkt gegen einen wesentlichen Stressfaktor: gegen unsere Tendenz, vieles um uns herum erst einmal negativ zu bewerten, und gegen die Grundüberzeugung, dass man gewiss bald auf ein Problem stößt, das die eigenen Fähigkeiten übersteigt.

Achtsamkeit ist ein übergeordneter Einflussfaktor: Ganz egal, was Sie tun – ob Sie eine Suppe essen, einen Bericht schreiben, über ein Problem nachdenken oder mit jemandem sprechen: Sie können es auf achtsame Weise tun. Dann wird die Suppe besser schmecken, der Bericht besser gelingen, das Problem leichter gelöst und das Gespräch erfolgreicher verlaufen.

Solange alles rundläuft und es uns gut geht, fällt es uns nicht schwer, den aktuellen Moment auszukosten und hin und wieder einfach nur zu »sein«. Aber in Krisenzeiten braucht es einiges an Übung, um auch dann noch voller Gelassenheit zu bleiben. Nur mit Übung können Sie Ihre natürliche Fähigkeit zur Achtsamkeit so vertiefen, ausbauen und aufrechterhalten, dass sie ihre Kraft auch in den schwierigen Phasen des Lebens entfaltet.

Was die Sonne mit Achtsamkeit zu tun hat

Was schauen Sie sich lieber an, einen Sonnenauf- oder einen Sonnenuntergang?

Ganz gleich, welches der beiden Naturschauspiele Sie bevorzugen, sie haben eines gemeinsam: Wenn wir dieses farbenprächtige Phänomen beobachten, kämen wir nie auf die Idee zu denken: »Also ein bisschen mehr lila sollte der Himmel schon sein. Und die Wolke da oben rechts stört das Gesamtbild. Außerdem ist es wirklich schade, dass die Sonne nicht noch viel mehr Rot hat.«