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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Wie ich zur Butter kam – Die Macht der Discounter
Zitronen im Auto – Von den Autokonzernen ausgequetscht
Süße Trauben der Selbstständigkeit? – Der Preis der Freiheit
Zucker für die Seele – Übermotiviert und ohne Sinn
Der Wurm im Apfel – Der moderne Gesundheitsmarkt
Zur Kasse bitte! – Die Profitgier der Banken
Schlecht gepackt und geladen – Sparen wir schon beim Denken?
Enttäuschender Einkauf – Wie wir uns gegenseitig austricksen
Neue Ernte! – Neues Denken, neues Handeln
Anhang
Anmerkungen
Dank
Über den Autor
Impressum
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Vorwort

»Da kommt meine magische Zauberschublade!« Mit diesen Worten stellte mich einer meiner Klienten seinem Geschäftspartner vor. Als ich ihn später fragte, was er damit gemeint habe, erklärte er mir das so: »Die Zusammenarbeit mit Ihnen war von Anfang an angenehm – trotz Ihres immens hohen Honorars. Ich habe sogar den Eindruck, je mehr ich Ihnen bezahle, umso mehr bekomme ich von Ihnen zurück. Es ist, als würde ich 100 Euro in eine Schublade legen, die Schublade schließen und eine Weile warten. Wenn ich die Schublade dann wieder öffne, liegen 300 Euro darin. Deshalb sind Sie meine magische Zauberschublade.«

Ich bin Unternehmensberater. Das Image dieses Berufs schwankt stark und ist derzeit eher zweifelhaft. Neben der Beratung von nationalen und internationalen Unternehmen halte ich unter anderem Seminare und Vorträge für Unternehmer, Geschäftsführer, Manager und Top-Führungskräfte1 – häufig aus dem Vertrieb.

In den letzten Jahren häuften sich skeptische Fragen von Vertriebsmitarbeitern, die unsicher waren, ob ihnen Vertriebsseminare wirklich weiterhelfen können. Sie hatten zunehmend das Gefühl, in Verhandlungen mit ihren Kunden an Grenzen zu stoßen, und so hörte ich immer öfter den Wunsch, ich möge doch Lösungen aufzeigen, um sich aus dem »Würgegriff der Kunden«, der Einkäufer, zu befreien, um endlich wieder Verhandlungen auf Augenhöhe führen zu können.

Der Vertriebsdirektor eines Lieferanten erzählte beispielsweise von einem Kunden, dem er häufig in Verhandlungen gegenüber saß. Es handelte sich um einen Discounter, für den der Lieferant ausschließlich Oster- und Weihnachtsware produzierte. Zweimal im Jahr hatte also der Discounter diese Saisonartikel zeitlich begrenzt im Sortiment und bot sie auf einer speziellen Aktionsfläche an.

Das Geschäft verlief seit Jahren erfolgreich. Für den Händler war das Risiko sehr begrenzt. Eventuelle Restanten hätte der Lieferant zurückgenommen, doch meistens war schon nach kurzer Zeit die gesamte Menge verkauft. Für die Ware hatte der Discounter an seinen Lieferanten sechs Millionen Euro zu überweisen, und zwar drei Monate nach Lieferung, also zu einem Zeitpunkt, da der Discounter den Verkaufserlös schon längst in seiner Kasse hatte. Die gesamte Ware war innerhalb kürzester Zeit verkauft worden, für rund 18 Millionen Euro, in früheren Jahren ausschließlich »Cash«.

Für diesen Discounter war und ist der Lieferant eine magische Zauberschublade. Und ich bin der festen Überzeugung, das ist auch gut so. Jeder Lieferant – egal ob von Waren, Dienstleistungen oder auch nur von guten Gefühlen – sollte seinen Kunden einen Wert bieten, der einem Vielfachen der Kosten entspricht, ganz gleich, ob es sich dabei um das Doppelte, das Dreifache, das Zehnfache oder das Zigfache handelt. Der Wert, den der Lieferant bietet, muss immer größer sein als der Preis.

Doch dann geschah etwas mit diesem Lieferanten, meinem Klienten, was mich nachdenklich stimmte und sicher ein Mitauslöser war, dieses Buch zu schreiben. Der Discounter setzte ihn unter Druck: Er wollte die Ware in der nächsten Saison noch günstiger haben. Es ging weder um besser noch um mehr oder aktueller, nein, nur billiger sollte es sein!

Hauptsache, billig – die Lieferanten werden unter Druck gesetzt.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf das Bild von der Zauberschublade zurückkommen, das mich einfach nicht loslässt. Auch diesmal war es wieder so: Man legt etwas in die Schublade, im Beispiel des Discounters sechs Millionen Euro, überlässt die Schublade zunächst sich selbst – und wenn man sie nach einer Weile wieder aufzieht, sind in diesem Fall auf einmal 18 Millionen Euro darin!

Ich wollte wissen, wie Menschen mit einer solchen Zauberschublade umgehen. In meinen Seminaren und auf Vorträgen erzählte ich deshalb die Geschichte von der Zauberschublade, die aus einem Hundert-Euro-Schein drei Hundert-Euro-Scheine macht, und stellte Teilnehmern und Zuhörern dann die Frage: »Was würden Sie tun, wenn Sie so eine fantastische Schublade zu Hause hätten?«

Die Antworten auf diese Frage waren sehr unterschiedlich und vielfältig. Es gibt zum Beispiel die Vorsichtigen, die höchstens einmal am Tag einen Hundert-Euro-Schein in die Schublade legen würden, getreu dem Motto: »Nur nichts überstrapazieren, dafür aber regelmäßig nutzen.« Die Mutigen dagegen würden nach dem ersten erfolgreichen Versuch beim nächsten Mal gleich 200 Euro hineinlegen, in der Erwartung, damit 600 Euro zu erzielen. Dann gibt es die Privatiers. Sie würden nie wieder arbeiten, wenn sie einen Schrank mit einer solchen besonderen Schublade hätten. Immer dann, wenn sie Geld benötigten, würden sie an den Schrank gehen und die Zauberschublade betätigen. Wieder andere Teilnehmer entpuppten sich als Genießer, die sich nach der magischen Verdreifachung des Hundert-Euro-Scheins schlicht darüber freuen würden, dass der Zufall ihnen so viel Geld in die Tasche gespült hat, und dann ihr Glück mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin teilen würden, beispielsweise durch eine Einladung zu einem opulenten Essen oder einem Wellness-Wochenende. Die Selbstständigen gehen ganz anders an die Sache heran. Sie würden ihren Job kündigen und tagein, tagaus die Schublade selbst und ständig auf- und zuziehen, sodass sich der Inhalt jedes Mal wieder verdreifacht. Und dann gibt es noch die Unternehmer. Sie würden ein Team beauftragen, das sich damit beschäftigen soll, eine Maschine zu entwickeln, die die Schublade vollautomatisch bedient, das Geld zählt und verpackt, während ein zweites Team an der Entwicklung weiterer Schubladen arbeitet.

Allerdings ist – erstaunlicherweise! – bisher noch keiner der Teilnehmer auf den folgenden Einfall gekommen: weniger als 100 Euro in die Zauberschublade zu legen, um dann beim Aufziehen dennoch 300 Euro herausnehmen zu können. Genau das entspricht jedoch dem Verhalten, mit dem der Vertriebsdirektor, der die Saisonware an die Discounter liefert, konfrontiert worden war. Er sollte dem Discounter eine Saison später wieder die gleiche Summe bescheren, jedoch weniger dafür bekommen.

Das ist in etwa so, als würde man 95 Euro in die Zauberschublade legen und erwarten, dann trotzdem 300 Euro entnehmen zu können. Hätte man damit Erfolg, wären beim nächsten Mal vielleicht nur noch 90 Euro nötig, damit die Schublade ihre Magie wirken lässt, dann 85 Euro und so weiter. Derjenige, der die Zauberschublade bedient, würde zwar immer weniger hineinlegen, sich aber nicht davon abbringen lassen, immer wieder die vollen 300 Euro zu erwarten, zu beanspruchen, ja, darauf zu bestehen! Schließlich würde er so hartnäckig darauf beharren, dass er sogar der Zauberschublade drohen würde, sie zu zerschlagen, wenn sie ihm den gewünschten Betrag bei reduziertem Einsatz verweigert. Genau das ist es, was dem Lieferanten widerfährt, wenn sein Kunde trotz bester Geschäfte und hoher Gewinne mit Auslistung oder Abbruch der Geschäftsbeziehung droht.

Erzähle ich dieses Beispiel in meinen Seminaren, lachen die meisten zunächst. Solange es um die Zauberschublade geht, hält jeder das beschriebene Szenario für Unsinn – die Schublade (angenommen, sie funktionierte tatsächlich) würde doch, legte man 95 Euro hinein, nur 285 Euro liefern, also wieder die dreifache Menge, wird argumentiert. Auch der harsche Umgang mit dem magischen Möbelstück scheint unverständlich: Man solle doch dankbar sein, dass überhaupt mehr herauskommt, als man hineinlegt! Einige erinnert das an das Märchen Von dem Fischer un syner Fru, in dem ein magischer Butt einem Fischerpaar Wünsche erfüllt. Die Fischersfrau verlangt jedoch immer mehr und sitzt schließlich wieder in ihrer einfachen Strandhütte, weil sie es übertrieben hat. Sie hat den guten Willen des magischen Butts ausgereizt.

Beim Bild der Zauberschublade und beim Märchen scheint allen klar zu sein, wie absurd die beschriebene Vorgehensweise ist. Es dauert jedoch nicht lange, bis es still wird und die ersten Zuhörer erkennen, dass sie entweder genau nach diesem Prinzip handeln, wenn sie von ihren Lieferanten oder Systemen mehr Effizienz verlangen, oder aber ihren Kunden gestatten, auf diese Art mit ihnen umzugehen.

In der Wirtschaftsrealität ist die Zauberschublade der Lieferant. Er weiß, dass es jemanden gibt, der die Schublade bedient und damit Geld verdient. Damit sind alle Beteiligten einverstanden. Sie wissen um dieses Prinzip unserer Marktwirtschaft und dass der gesunde Handel darauf beruht, Ware teurer zu verkaufen, als sie eingekauft wurde. Nur dass man zunehmend versucht, dem anderen die Butter vom Brot zu nehmen, verbunden mit der dahinterstehenden Haltung oder auch Motivation, ist fragwürdig. Statt umgekehrt zu fragen: »Darf’s noch etwas mehr Butter sein?«, hat sich in zahlreichen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens ein Handeln durchgesetzt, das von rücksichtslosem Gewinnstreben angetrieben wird und ernsthaft zu hinterfragen ist.

In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass in den verschiedensten Industriebranchen die Systeme ausgereizt sind. Der »Outcome«, also das, was unterm Strich übrig bleibt, soll mindestens gleich bleiben, obwohl immer weniger in die jeweilige »Schublade« hineingelegt wird. Normalerweise würde sich jemand mit gesundem Menschenverstand nicht auf diese Art über den Tisch ziehen lassen. Dennoch geschieht es, mittlerweile wird das an zahlreichen Ecken und Enden der Gesellschaft sichtbar: Wir nehmen uns gegenseitig die Butter vom Brot. Mehr noch: Nachdem wir unserem Gegenüber die Butter auf seinem Brot weggenommen haben, nehmen wir uns auch noch das Brot selbst – Hauptsache, wir haben es. Was darüber in den meisten Fällen vergessen wird: Das Brot, das wir dem anderen weggenommen haben, ist eines, auf dem eben keine Butter mehr ist. Das heißt, auch derjenige, der auf diese Weise eigentlich mehr haben wollte, sitzt hinterher mit einem trockenen Stück Brot da. In dieser Situation nützt es auch kaum, einer der »ganz Schlauen« zu sein, die wissen, woher der Wind weht und auf welcher Seite das Brot gebuttert ist. Denn wo früher mal Butter war, ist heute nur noch trocken Brot.

Statt nun diesen Umstand zu analysieren und dann den Fehler einzusehen, wird er häufig als »gesteigerte Effizienz« verkauft. Diese angebliche Optimierung, die gesteigerte Effizienz, ist leider oft nur Augenwischerei. Einen wirklichen Mehrwert gibt es weder für den Hersteller noch für den Händler und schon gar nicht für den Kunden, der das Endprodukt erwirbt.

Ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben verdeutlicht das: Ich besaß einen Wecker, ein Produkt einer bekannten, ehemals deutschen Firma. Der Wecker war solide und funktionierte tadellos. Ich schätzte ihn sehr und hatte ihn schon lange, über 20 Jahre. Viele meiner Reisen hatte er mitgemacht, ohne Schaden zu nehmen. Doch schließlich war die Lebensdauer des Weckers abgelaufen, und nach so langer Zeit ist das auch völlig in Ordnung. Am liebsten hätte ich den gleichen Wecker wieder gekauft, und als ich mich im Fachhandel erkundigte, erfuhr ich zu meiner großen Freude, dass es dieses Modell tatsächlich noch immer gab, und kaufte es.

Doch der neue Wecker enttäuschte. Zwar sah er auf den ersten Blick genauso aus wie der alte, doch bereits beim Auspacken und beim Einstellen der Uhr hatte ich den Eindruck, dass sich etwas verändert hatte, und zwar nicht zum Guten. Die Oberfläche fühlte sich anders an. Sie war nicht mehr aus dem hochwertigen und stabilen Kunststoff, sondern aus billig wirkendem und stechend riechendem Plastik. Auch das Zifferblatt sah bei genauer Betrachtung anders aus, und insgesamt fühlte sich der Wecker »leichter« an als sein Vorgänger. Im Betrieb stellte ich ebenfalls Unterschiede fest. Die veränderte Lackierung von Zifferblatt und Zeigern hatte zur Folge, dass die Uhrzeit und vor allem die Weckzeit bei Dunkelheit nicht mehr so einfach abzulesen waren. Es war auch nicht mehr der (nun deutlich schrillere) Ton, der mich morgens weckte, sondern das einige Sekunden früher hörbare Umschalten auf den Alarm im Inneren des Gehäuses. Besonders störend war dieses laute Klacken übrigens am Wochenende, denn egal ob der Alarm aktiviert war oder nicht, das Klacken blieb.

Als ich den Wecker dann eines Nachts im Schlaf von meinem Nachttisch schubste und er auf den Boden fiel – ein Vorgang, den die Vorgängerversion im Laufe der Jahre mehrmals unbeschadet überstanden hatte –, zersprang die billige Plastikhülle. Am Morgen untersuchte ich das Innenleben des Geräts, und es stellte sich heraus, dass die Zahnräder nicht mehr aus Metall, sondern aus Kunststoff bestanden, und dass die nur sehr notdürftig zusammengelöteten Drähte stellenweise durch den Aufprall aus den Verbindungen gerissen waren. Eine Reparatur kam nicht mehr in Frage. Mir war vollkommen klar, dass die Reparaturkosten den Neupreis bei Weitem überstiegen hätten.

Ich musste einen neuen Wecker kaufen. Nicht nur, dass sich durch den erzwungenen Neukauf innerhalb kürzester Zeit der Anschaffungspreis im gewissen Sinne verdoppelte, mein Vertrauen in die Herstellerfirma, auf die ich zuvor Jahrzehnte lang große Stücke gehalten hatte, war beschädigt – es war buchstäblich zerbrochen. Wenn dieses Modell auf solch billige Weise hergestellt worden war, wie konnte es da bei anderen Produkten des gleichen Herstellers anders aussehen? Ich misstraute dem gesamten Unternehmen – und entschied mich letztendlich für einen Wecker der Konkurrenz.

»Ich achte auf diese Details, denn diese Liebe zu Details macht den Unterscheid zum Wettbewerb aus.«

Klaus Fröhlich, BMW-Entwicklungschef

Schon vor einiger Zeit haben wir eine Spirale in Gang gesetzt, und die fatalen Folgen dieser Entwicklung zeichnen sich längst deutlich ab. Die meisten Gebrauchsgegenstände und mittlerweile auch viele Dienstleistungen verlieren zunehmend an Qualität. Teilweise sind wir bereits genötigt, Geld für Leistungen aufzuwenden, die in der Vergangenheit Bestandteil eines Gesamtangebotes waren. Beispielsweise war bei den Airlines eine Sitzplatzreservierung früher kostenlos, heute muss eine Sitzplatzreservierung bei etlichen Fluglinien entweder extra bezahlt werden oder sie ist nur im Rahmen einer höheren und teureren Ticketkategorie zusammen mit weiteren, eher unnötigen Leistungen erhältlich. Fachleute sprechen hier von Preisbündelung. Wenn wir Kunden dann aber nicht mehr mitspielen, werden wir mit Rabatten geködert – eine verzweifelte Maßnahme, wenn sonst nichts mehr hilft oder einfach die Kreativität für eine Anreicherung des Wertes für den Kunden fehlt.

Rabatte machen die Ware nur billiger, jedoch nicht besser.

Auch als Kunden sind wir also eine Art Zauberschublade, in die immer weniger hineingegeben wird, von der aber zugleich erwartet wird, dass sie immer mehr herausgibt. Wenn man auch diese Ebene in die Betrachtung miteinfließen lässt, wird immer offensichtlicher, dass wir in vielen Bereichen in eine Sackgasse geraten sind. Dennoch wird versucht, das Ende der Sackgasse schönzureden, es zu optimieren, um es noch effizienter zu gestalten, und das, ohne den Sinn dieses Vorgehens zu hinterfragen. Wie lange kann das auf diese Weise noch weitergehen? Haben wir die Möglichkeiten zu Verbesserung und Optimierung ausgereizt?

An dieser Stelle ist es mir wichtig, Folgendes klarzustellen: Ich liebe Gewinne. Ich liebe es, wenn Unternehmen Gewinne erzielen. Das ist mein Beruf, das ist meine Berufung und das ist die Mission meines Unternehmens. Wir setzen uns jedoch dafür ein, dass die Gewinne dort bleiben, wo sie hingehören: beim Produzenten. Viel zu häufig geben Produzenten, sobald ihre Kunden nach Rabatt fragen, einen Teil der Gewinne ab. Das ist falsch, denn die Gewinne gehören den Produzenten! Dass diese Entwicklung letztlich zulasten der Endkunden geht und damit auf lange Sicht auch Händlern schadet, sollte durch die eben beschriebenen Beispiele deutlich geworden sein.

Damit Produzenten und Lieferanten das bestmögliche Ergebnis erzielen, berate ich Unternehmen, schule Vertriebler in Seminaren und halte Vorträge zu diesen Themen. In meinen beiden Büchern WIN! Verhandeln, um zu siegen und Verhandeln! Wie David Goliath besiegt geht es um den Verhandlungserfolg und darum, wirkungsvoll zu verhindern, dass einem die Butter vom Brot genommen wird. Dem Preis, der bei der Verhandlung erzielt werden soll, sollte jedoch immer auch ein entsprechender Nutzen oder Wert gegenüberstehen. Viel zu oft wird versucht, dem Preisdruck mit faulen Tricks zu begegnen, um letztlich doch mehr für sich selbst herauszuholen, als es zunächst erscheint. Dieses Denken ist auch bei Beratern verbreitet, die dem Kunden mehr Tage verkaufen, als für den Auftrag tatsächlich nötig sind, und versuchen, möglichst viele Köpfe möglichst lange »auf dem Auftrag zu halten«, bei Ärzten, die das System ausnutzen und unnötige Leistungen erbringen, um diese abzurechnen, bei Handwerkern, die Stunden schinden, oder bei Airlines, die beim Bezahlen des Tickets zusätzliche Gebühren verlangen. Die Liste lässt sich mit Beispielen aus nahezu allen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens fortsetzen, bis hin zu Menschen, die sich weder an ihrer Leistung noch am Nutzen ihrer Tätigkeit messen lassen wollen.

Gegen diese Geisteshaltung richtet sich dieses Buch – gegen die vom Nutzen befreite Gewinnmaximierung. Dieses ausufernde Bestreben führt auch dazu, dass ganze Berufsgruppen unverschuldet öffentlich in Misskredit geraten. Vor Jahrzehnten hatten Unternehmensberater durchaus einen guten Ruf. Die Zeiten haben sich geändert. Aber auch das Image von Ärzten, Bankern oder Werbefachleuten ist bereits angekratzt.

Am Beispiel des Lebensmitteleinzelhandels, der Automobilbranche, der Selbstständigkeit, der Gesundheit, des Finanzwesens und auch des Motivationscoachings zeige ich auf, wie sich die Grenzen verschoben haben und wie dabei moralische Werte immer geringer eingeschätzt werden. Es ist der Versuch, die Maßlosigkeit, die letztlich unsere gesamte Gesellschaft betrifft, sowohl in der Wirtschaft als auch im Privatleben, anschaulich zu schildern und dabei zugleich ihren Ursprüngen nachzugehen. Neben aller Kritik möchte auch ich Anregungen zu Lösungen geben, die den Nutzen für den Kunden wieder an die Gewinnorientierung des Lieferanten koppeln.

Mir ist bewusst, dass bei der Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Themas Lösungen nur individuell entwickelt werden können. Auch ich habe selbstverständlich keine Patentlösung. Mit diesem Buch möchte ich ein Schlaglicht – und damit neues Licht – auf Situationen werfen, die wir in der einen oder anderen Erscheinungsform sicher alle kennen. Wenn es gelingt, Sie als Leser zum Nachdenken oder gar zum Weiterdenken anzuregen und Sie für andere Lösungsansätze zu begeistern, dann hat dieses Buch sein Ziel erreicht.

Die Zeit ist gekommen, dass wir uns der Frage stellen, was und wie viel in unserem Alltag buchstäblich ausgereizt ist.

Ihr

Kurt Georg Scheible

Zitronen im Auto – Von den Autokonzernen ausgequetscht

Anfang der 1990er-Jahre war ich verantwortlicher Verkaufsleiter einer Zulieferfirma für die Autoindustrie. Trotz mehrerer Standorte in Deutschland und einiger Niederlassungen im Ausland gehörte das inhabergeführte Unternehmen wie viele andere Automobilzulieferer dem Mittelstand an. Lassen Sie mich hier kurz erklären, was mit »Mittelstand« gemeint ist. Nach Definition des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) sind das Firmen, die maximal 500 Beschäftigte haben und einen Jahresumsatz von bis zu 50 Millionen Euro erwirtschaften. Die Bedeutung des Mittelstandes für die deutsche Wirtschaft veranschaulicht die Darstellung auf der folgenden Seite.11

Das Unternehmen, für das ich tätig war, verarbeitete Kautschuk und stellte unter anderem Gummipuffer und Gummimetallverbindungen her. Diese speziellen Verbindungen werden in Fahrzeugen in großen Stückzahlen und Ausführungen verbaut. Jedes Aggregat, jeder Motor und das gesamte Fahrwerk werden nicht einfach Metall auf Metall verschraubt, sondern mittels Gummimetallverbindungen schwingungsisoliert und sicher verbunden. Gerade moderne Luftfederfahrwerke haben eine Vielzahl dieser hoch beanspruchten Teile.

Wie ich zur Butter kam – Die Macht der Discounter

Ende der Sechzigerjahre, Anfang der Siebziger – also in den Jahren, die heute als die »gute alte Zeit« gelten – war die Wirtschaft robust und nahm nach dem Wirtschaftswunder weiter Fahrt auf. Der Wohlstand festigte sich, die Nachkriegsjahre waren fast überwunden, doch einige Gewohnheiten und Werte aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich gehalten. So galt Butter damals neben der D-Mark noch immer als eine Art Währung.

In dieser Zeit wuchs ich in einer Gemeinde mit gut 5000 Einwohnern im Südwesten Deutschlands auf. In unserem Ort gab es einige Familien mit unserem Namen, die meisten hatten Handwerksberufe, einige ein kleines oder mittelständisches Geschäft. Zur besseren und einfacheren Unterscheidung wurde dem Familiennamen einfach der Beruf vorangestellt. So gab es einen Baustoff-Scheible, einen Maler-Scheible und einen Schlosser-Scheible. Und es gab einen Boxer-Scheible, der verdankte seinen Namen allerdings nicht seinem Beruf, sondern seinen Hunden. Meine Eltern betrieben ein für die damalige Zeit typisches Lebensmittelgeschäft. Etliche Waren, wie Mehl, Zucker, Obst und Nüsse oder auch Sauerkraut, lagerten lose in großen Behältern und wurden erst beim Kauf abgewogen und dann verpackt. Die Milch kam noch aus großen Kannen und wurde in Milchkannen abgefüllt, die die Kunden selbst mitbrachten. Das brachte uns unseren »Hausnamen« ein: Wir waren bekannt als »Milcher-Scheible«. Jeder aus unserer Familie wurde so genannt.

Das Geschäft meiner Eltern war im Ortskern, nahe dem Marktplatz, der Apotheke und anderen Geschäften und somit fester Bestandteil der örtlichen Versorgung und zugleich ein kommunikativer Treffpunkt. Es kam öfter vor, dass Leute, hauptsächlich Hausfrauen, vorbeikamen und sich gleich nach dem Betreten des Ladens nach dem Butterpreis erkundigten. Die meisten erledigten dann ihren Einkauf, einige jedoch ohne tatsächlich Butter zu kaufen. Und manchmal kam es vor, dass die Frauen einfach wieder gingen – ohne etwas zu kaufen. Als kleiner Junge fand ich das seltsam, bis mir mein Vater eines Tages erklärte: »Die Butter ist eine Art Währung. Viele Menschen bemessen allein anhand des Butterpreises, ob wir teuer oder günstig sind. Sie glauben, wenn die Butter bei uns teurer ist als in einem anderen Geschäft, ist bei uns alles andere auch teurer.« Ich verstand: Lag also der Butterpreis über dem normal üblichen Preisniveau, musste man nach dieser Logik auch für alles andere mehr bezahlen – und somit war der ganze Laden teuer. Der Preis für die Butter war ein Referenzpreis.

Die Butterwährung war ein Barometer für teuer oder günstig.

So lief es eine ganze Zeit lang. Den lokalen Markt teilten sich mehrere kleine Einzelhandelsgeschäfte. Doch eines Tages wurde in unserer Gemeinde der erste Supermarkt gebaut, und zwar gleich um die Ecke von unserem Laden, nur etwa 150 Meter entfernt. Als er eröffnete, änderte sich das Einkaufsverhalten der Kundschaft meiner Eltern merklich. Und auch das Verhalten meines Vaters änderte sich: Von nun an studierte er aufmerksam die wöchentlichen Sonderangebote des Supermarkts. Eines Tages sagte mein Vater: »Jetzt verkaufen die Butter noch unter dem Einkaufspreis!« – Damit meinte er den Preis, den er für die Butter bezahlte. – »Die legen bei jedem Stück, das sie verkaufen, noch drauf. Das kann nicht gut gehen!« Daraufhin schmiedete ich einen Plan und trommelte ein paar Freunde zusammen: Mit meinem erarbeiteten und ersparten Geld gingen wir in den Supermarkt, um so viel Butter zu kaufen, wie wir konnten, viel mehr, als erlaubt war. Ich erinnere mich, dass jeder Kunde nur drei oder vier Stück Butter kaufen durfte. Deshalb brauchte ich ja auch meine Freunde für diese Aktion. Die Butter brachten wir dann voller Stolz zu meinem Vater.

Hinter meiner Aktion stand folgende Überlegung: Zum einen würde mein Vater Geld sparen, wenn ich ihm die Butter billiger besorgte, damit er sie dann verkaufen kann, und zum anderen – und das war für mich damals noch viel wichtiger – würde es dem Supermarkt, wenn dieser die Butter unter dem Einkaufspreis anbietet, sicher schaden, wenn man so viel wie möglich davon kauft, auf Dauer würde es ihn sogar ruinieren. Der Supermarkt müsste also eines Tages wieder schließen und alle Kunden würden wieder bei meinem Vater einkaufen.

Natürlich ging der Plan nicht auf. Zwar schloss der Supermarkt nach ein paar Jahren tatsächlich seine Türen für immer, aber das lag weniger an meinem Coup, sondern vor allem daran, dass mit der Zeit weitere Märkte vor den Toren unserer Gemeinde hinzukamen. Vielleicht denken Sie jetzt, dass es keine große Überraschung ist, wenn die Aktion eines Zehnjährigen nichts bewirkt, umso mehr, wenn es Ziel der Sache ist, anderen Schaden zuzufügen. Das mag sein. Dennoch sind Verhaltensweisen, die meinem damaligen Plan ähneln, im deutschen Handel heute oft anzutreffen. Sie werden in diesem Buch erfahren, wie gestandene Handelsmanager ihrem eigenen Unternehmen ganz bewusst und sehr bereitwillig Nutzen vorenthalten, nur um dem Wettbewerber oder dem Lieferanten zu schaden – oder am besten gleich beiden.

Ich kann mich übrigens nicht mehr erinnern, was mein Vater damals mit der Butter machte, die meine Freunde und ich ihm brachten. Das bringt mich auf die Frage, wie die »Währung« Butter so an Wert verlieren konnte. Nach dem Wiederaufbau lief die industrielle Produktion in Deutschland wieder an. Nur die Landwirtschaft blieb in weiten Teilen Deutschlands hinter der Entwicklung zurück. So beschloss die Politik in den Fünfzigerjahren, die Landwirtschaft mit Subventionen zu fördern. Der Staat garantierte den Bauern auf viele landwirtschaftliche Produkte feste Abnahmepreise. Das betraf hauptsächlich Getreide, Vieh, Milch und Milchprodukte. Die Subventionen zeigten rasch ihre Wirkung. Die landwirtschaftliche Produktion stieg sprunghaft an. Jedoch kam es innerhalb von 20 Jahren zu einer Überproduktion. Ende der Siebzigerjahre erzeugten die Bauern mehr, als benötigt wurde. Die sogenannten Milchseen, die Butter- und Fleischberge entstanden. Um einem weiteren Anwachsen entgegenzuwirken, führte die Politik 1984 die Milchquote ein.

Neben dem Anwachsen des Butterbergs trug aber noch eine weitere Entwicklung zum Niedergang der Butterwährung bei: Die Preisgestaltung und damit die Einkaufs- und Verkaufspolitik im Handel veränderten sich mit dem Aufkommen der Supermärkte. Zwar nutzen wir »super« umgangssprachlich oft im Sinne von »großartig« oder »hervorragend«, doch die Bezeichnung »Supermarkt« hat damit wenig zu tun, sondern sie bezieht sich auf die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes »super«, und diese ist schlicht »über«. Verbindet man das mit »mercatus«, was »Handel« bedeutet, erhält man einen »Supermarkt«, also ein Einzelhandelsgeschäft, das Lebensmittel, Genussmittel und Drogerieartikel unter einem Dach anbietet. Inzwischen sind weitere Produktgruppen hinzugekommen. In den neuen Bundesländern wurden Supermärkte auch »Kaufhallen« genannt. Im Gegensatz zu den Kolonialwarengeschäften von einst – auch als »Tante-Emma-Läden« bekannt –, die neben Lebensmitteln auch Haushaltswaren, wie Petroleum, Kurzwaren oder gar Werkzeug, anboten und in denen der Kunde meistens vom Inhaber und seiner Familie bedient wurde, sieht es das ursprüngliche Verkaufskonzept der Supermärkte vor, dass sich der Kunde selbst bedient. Die Waren sind in unterschiedlichen Handelsgrößen verpackt und zu festgeschriebenen Preisen erhältlich. Das Sortiment eines Supermarkts ist eingeschränkt auf bestimmte Produktgruppen und es wird auf einer Einkaufsfläche von mindestens 400m2 angeboten. Der Kunde bezahlt den Einkauf zentral an einer Kasse. Beim Kaufmann »um die Ecke« konnte man anschreiben oder gar auf einige Produkte günstigere Konditionen aushandeln – in einem Supermarkt ist das undenkbar.

Im Supermarkt ist nicht automatisch alles »super«!

Die meisten Supermärkte gehören zu Handelsketten, die ein weites Vertriebsnetz unterhalten. Sie betreiben ähnliche Märkte auf nationaler oder sogar auf internationaler Ebene. Das ist ein weiterer Unterschied zu den Tante-Emma-Läden, die in der Regel die Kundschaft vor Ort bedienten, aber höchstens regionale Bedeutung hatten.

Die Geschichte der Supermärkte begann Ende der 1950er-Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst eine Preisbindung auf etliche Waren angeordnet worden, unter anderem aufgrund von staatlichen Subventionen besonders bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, doch bereits in den 1960er-Jahren wurde die Abschaffung von Preisbindungen diskutiert, da es sich dabei um einen Eingriff in den freien Wettbewerb handelte. 1974 wurden die Preisbindungen durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) abgeschafft. (Jedoch gibt es Ausnahmen, bei denen weiterhin die Preisbindung gilt, etwa für rezeptpflichtige Arzneimittel, Tabakwaren oder Bücher.)

Während die frühen Vorläufer der Supermärkte zunächst kaum eine Rolle gespielt hatten, wurden die Supermärkte mit dem Wegfall der Preisbindungen und der damit verbundenen öffentlichen Diskussion zum Thema Preis immer bekannter und beliebter.

Das Prinzip der nun aufkommenden Supermärkte war einfach und doch erfolgreich: schlichte Ausstattung, wenig Aufwand und ein kleines Sortiment mit Artikeln zu dauerhaftem Niedrigpreis (Dauerniedrigpreis). Das Preisbewusstsein der Bevölkerung war geweckt und wuchs und wuchs.

Die Formel der frühen Supermärkte: einfach + simpel = Erfolg.

Das Konzept kam an und setzte sich mehr und mehr durch. Zwei, die es zur Perfektion brachten und deren Name zum Inbegriff des Discounter-Prinzips werden sollte, waren die beiden Brüder Karl und Theo Albrecht. 1946 übernahmen sie den gerade mal 100m2 großen Lebensmittelladen der Mutter im Essener Vorort Schonebeck, Anfang der Sechszigerjahre unterhielten die Albrechts bereits über 170 Supermärkte, verteilt über das gesamte Ruhrgebiet. Der Umsatz betrug damals schon beachtliche 100 Millionen D-Mark.2 2014 waren es weltweit rund 10.000 Filialen mit einem Umsatz von insgesamt 62,2 Milliarden Euro.3

Das Jahr 1962 gilt als der Zeitpunkt des endgültigen Durchbruchs der Supermärkte und ihrer Verkaufspolitik. Seither wurde das Verkaufsprinzip weiter ausgebaut. Die neue Geschäftsform fand zunehmenden Anklang und damit weitere Verbreitung. Neben den normalen Supermärkten gibt es heute auch die sogenannten Harddiscounter. Sie zeichnen sich typischerweise dadurch aus, dass ihre Verkaufsflächen unter 1000m2 betragen und dass ihr Sortiment weniger als 1500 Produkte umfasst. Inzwischen wurde das Discount-Prinzip außerdem auch auf andere Warengruppen übertragen, wie beispielsweise Elektro-, Kosmetik-, Bekleidungs- oder Wohnartikel.

Die ursprüngliche Verkaufsstrategie der Supermärkte basiert darauf, bei einem auf raschen Lagerumschlag ausgerichteten Sortiment die Ware zu sehr knapp kalkulierten Preisen anzubieten und zugleich die Serviceleistungen rund um den Verkauf weitgehend einzuschränken. Die Supermärkte haben über die Jahre ein beachtliches Wachstum erzielt und ihre Marktstellung deutlich ausgebaut. Inzwischen reichen die verschiedenen Formen des preisaggressiven Verkaufens von den bekannten Marken des Lebensmitteleinzelhandles wie Aldi, Rewe, Edeka oder Lidl über die Niedrigpreisabteilungen der Warenhäuser bis hin zu »Rein-Raus«-Geschäften. Letztere kaufen günstig Warenchargen ein und verkaufen sie dann nach dem Motto »Nur solange der Vorrat reicht«, danach gibt es ein neues Angebot.

Der Preiskampf im Handel ist extrem hart. Um eine Vergleichbarkeit der Preise zu vermeiden, also dem Verbraucher den Vergleich zu erschweren oder sogar unmöglich zu machen, hat heute nahezu jede Handelskette neben Markenartikeln von bekannten Herstellern auch im eigenen Namen produzierte Handelsmarken im Angebot. Die sind meistens günstiger als die bekannten Marken und versprechen dennoch eine ähnliche Qualität. Den Händlern bringen die Handelsmarken zudem den Vorteil, dass sie damit die Produzenten noch mehr unter Druck setzen können. Die Markenhersteller reagieren darauf mit mehr oder weniger starker Eigenvermarktung ihrer Produkte, beispielsweise in Factory-Outlets, in denen die Gewinnspanne des Handels ganz oder teilweise an den Verbraucher beziehungsweise den Endkunden in Form von teilweise erheblichen Rabatten gegenüber dem Listenpreis weitergegeben wird. Diese Spirale des Immer-günstiger-Werdens ist scheinbar unaufhaltsam und hat sich verselbstständigt.

Günstig reicht nicht – es geht immer noch billiger.

Die Erfolgsfaktoren der Discount-Vertriebsformen sind vielfältig. Dennoch möchte ich auf ein paar der bedeutenderen Aspekte näher eingehen: Die Jahre der Nachkriegszeit waren für viele Familien geprägt von Verzicht und knappen Kassen. Das hat bei den Konsumenten den Blick für den Preis extrem geschärft, und das prägt das Einkaufsverhalten der Deutschen – möglicherweise – noch bis heute. Nachrichten über eine unsichere Wirtschaftslage oder auch nur der Gedanke an harte Zeiten mahnen sofort zur Sparsamkeit, und der Volksmund weiß Rat. Wurde früher der Pfennig zweimal umgedreht, machen das die Menschen und auch die Betriebe heute mit dem Cent.

Doch das über die Jahre erprobte Preisbewusstsein erfüllt mittlerweile noch einen anderen Zweck: Oft wird in einem Bereich preisbewusst eingekauft, damit man sich mit der theoretischen Ersparnis an anderer Stelle etwas Besonderes leisten kann. So gibt es zum Beispiel noch immer Konsumenten, die sich an Wochentagen mit günstigem Bier versorgen und für sonntags oder für Besuch eine Kiste der Premiummarke mitnehmen.

Ähnlich verhält es sich mit dem besonderen Kaffeegenuss für die festlich gedeckte Sonntagstafel. Und obwohl die Preisunterschiede heute längst nicht mehr so extrem sind wie in den Mangeljahren hat sich dieses Verhalten in die Gegenwart gerettet.

Dabei ist der Einkauf beim Discounter schon lange nicht mehr nur für bestimmte Einkommensschichten typisch. Auch die Gut- und Besserverdiener haben längst die »Lust am Discount« für sich entdeckt. Beim Discounter einzukaufen ist heute kein Tabu mehr, anders als noch vor etlichen Jahren, als Menschen, die »Mercedes fahren, aber bei Aldi einkaufen« mit spöttischen Bemerkungen rechnen mussten. Mit dem Erscheinen des Buchs Aldidente im Jahr 19964 wurde der Discounter und das damit verbundene Einkaufsverhalten salonfähig. Es gilt heute als »sexy«, Dinge preiswert zu erwerben – schließlich kann man dann mit den Worten eines bekannten Elektrodiscounters behaupten: »Ich bin doch nicht blöd!« Der Verbraucher hat sich zum cleveren Schnäppchenjäger entwickelt, der zugleich bei der Qualität keine Abstriche akzeptiert. Veröffentlichungen, die aufdecken, welcher Markenhersteller hinter einer Handelsware oder einem No-Name-Produkt steht, kommen da ebenfalls sehr gelegen.

Der Preis hat seine Funktion als Qualitätsindikator verloren.

Der Handel nutzt konsequent den technischen Fortschritt. Die Märkte werden ständig aufgerüstet, denn auch im Handel gilt: Investitionen in die Technik zahlen sich schneller aus als eine Aufstockung von Personal. Gleichzeitig bietet die neue Technik dem Handel schier unzählige Möglichkeiten, angefangen bei der Analyse der Kaufgewohnheiten der Kunden über Maßnahmen zur Kundengewinnung und -bindung sowie zur Optimierung von Sortiment, Warenfluss, Aktionen bis hin zur effizienten Beschaffung der Ware. Die generierten Daten werden außerdem eingesetzt, um weiter Druck auf die Lieferanten auszuüben.

Hinzu kommt die rasant wachsende Bedeutung des Internets. Vertriebsorganisationen, die sich auf den Internethandel spezialisiert haben, sind im Markt schon länger fest etabliert, aber auch die großen Handelsketten drängen mehr und mehr in diese spezielle Verkaufssparte. Wie hart der Wettbewerb im Onlinehandel schon geworden ist, zeigt das Beispiel der Elektronik-Fachmärkte Media Markt und Saturn. Beide Marken gehören zur deutschen Media-Saturn-Holding GmbH, der größten Elektronik-Fachmarktkette Europas. Sowohl Media Markt als auch Saturn sind im stationären Handel sehr gut aufgestellt. Doch im Onlinegeschäft lief es im neuen Jahrtausend nicht den Erwartungen entsprechend. Deshalb kaufte die Holding 2011 den Onlinehändler redcoon, um dieses Geschäftsfeld endgültig für sich zu sichern. Inzwischen gibt es auch für die Marken Media Markt und Saturn ein großes Onlineangebot inklusive diverser buchbarer Dienstleistungen.

Ein Ende des Internet-Booms ist für den Handel noch lange nicht abzusehen. Zwar entdecken einige Händler den Onlinehandel erst recht spät für sich, doch dann geschieht es mit Macht und häufig mit eingeforderter »freiwilliger« finanzieller Unterstützung der Industrie. So verlangte der Drogeriemarkt dm 2015 bereits vor dem Start seines Onlineshops von seinen Lieferanten einen »Begrüßungsbonus« in Höhe von 1,5 Prozent auf den Jahresumsatz.5 Diese Summe bezog sich jedoch auf den Gesamtumsatz des stationären Handels. 2014 belief sich dieser auf 8,3 Milliarden Euro – davon allein in Deutschland 6,4 Milliarden Euro. Rein rechnerisch betrachtet ergab die Forderung für die Sparte Onlinehandel also einen »Begrüßungsbonus« von 124,5 Millionen Euro und damit eine ansehnliche zusätzliche Liquidität.

Doch für dm wird es sich doppelt rechnen. Zwar kaufen die Deutschen im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn die Drogerieartikel bisher kaum im Internet, doch Experten erwarten schon bald einen deutlichen Anstieg der online verkauften Drogerieartikel. Wer sich diesen Markt also rechtzeitig sichert und die richtigen Dienste bietet, der kann davon in Zukunft massiv profitieren. Noch mehr Chancen verspricht der Onlinehandel mit Lebensmitteln. In Großbritannien und Frankreich wurden 2013 mit E-Food bereits etwa 7,8 Milliarden beziehungsweise 6,7 Milliarden Euro umgesetzt. Das entspricht einem Anteil von grob 5,5 Prozent beziehungsweise 4 Prozent des jeweiligen Gesamtvolumens – Tendenz stark steigend. Bis 2018 soll sich der Umsatz in Großbritannien und Frankreich verdoppeln. In Deutschland liegt der Anteil von E-Food noch bei unter einem Prozent.6 Doch die großen Händler wollen den Trend auf keinen Fall verpassen und stehen mit eigenen Onlineportalen parat.