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Dietmar Hansch

Persönlichkeit führt

Sich selbst und Mitarbeiter
wirkungsvoll coachen

Grundlagen der Psychosynergetik®

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat: Sabine Rock, Frankfurt/Main | www.druckreif-rock.de
Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen | www.martinzech.de

©2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2008 erschienenen Buchtitel „Persönlichkeit führt“ von Dietmar Hansch, ©2008 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

ISBN Buchausgabe: 978-3-89749-846-4
ISBN epub: 978-3-86200-963-3

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Inhalt

Über dieses Buch

1 Grundlagen – was Sie über Gehirn und Psyche wissen müssen

1.1 Flow – Surfen auf den Wellen des Seins

1.2 Das Tausendfuß-Problem: Ich und Selbst

1.3 Das Ich

1.4 Das Selbst

1.5 Äußerer und innerer Lohn

1.6 Wie Ich und Selbst zusammenarbeiten

1.7 Persönlichkeitsentwicklung und chronisches Dysstress-Syndrom

1.8 Wie aus Schmerz Leid wird

1.9 Die Lücke zwischen Reiz und Reaktion: die kognitive Modulation unserer Erbgefühle

1.10 Die Natur von Denken und Erkenntnis: Evolutionäre Erkenntnistheorie und Konstruktivismus

1.11 Facetten des Leids

2 Das Buddha-Prinzip: Der Weg zu innerer Freiheit

2.1 Das Ziel: Die Spontaneität des Kindes wiederfinden

2.2 Die sechs Grundprinzipien der inneren Freiheit

2.3 Die Praxis der inneren Befreiung

3 Das Superman-Prinzip: Inneres Wachstum und persönliche Meisterschaft

3.1 Von der Spontaneität des Kindes zur Spontaneität des Meisters

3.2 Der Kreis des Wachstums

3.3 Möglichst viele Flow-Antriebe in unterschiedlichen Bereichen entwickeln

3.4 Herzensanliegen, Berufung, Lebenswerk

3.5 Eigensubstanz aufbauen

3.6 Selbstsicherheit und Autonomie gewinnen

3.7 Die Prinzipien der psychischen Veränderung

3.8 Der mittlere Weg – Dialektiken und Scheinparadoxien im psychischen Spiegelkabinett

3.9 Persönliche Meisterschaft

4 Das Paradies-Prinzip: Die selbstentsprechende Nische bauen und den Alltag managen

4.1 Selbstfindung und selbstentsprechende Einnischung

4.2 Strategische Lebensplanung

4.3 Zeitmanagement

4.4 Selbstmotivation

4.5 Erfolg

4.6 Die drei Stufen des Glücks

4.7 Der Schlüssel zum Glück: Förderliche Geisteshaltungen

5 Das Aikido-Prinzip: Die Kunst, Mitarbeiter zu führen

5.1 Führung im Zeitalter der Wissensarbeit

5.2 Mitarbeiter-Empowerment

5.3 Team-Empowerment

5.4 Die lernende Organisation

5.5 Führung mit persönlicher Meisterschaft

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Literaturempfehlungen

Anhang

Persönliche Meisterschaft im Umgang mit anderen
Menschen – die sieben Grundregeln

Exkurs I: Denken und Gefühle – Konditionierung,
Gewöhnung und kognitive Modulation

Exkurs II: Denken und Gefühle – die kulturelle Aufhebung
unserer Natur

Über den Autor

Über dieses Buch

Wachsender Anforderungs-druck

Viele von Ihnen kennen das Gefühl, enorm steigenden Anforderungen ausgesetzt zu sein. Die Gründe dafür sind vielfältig. Vielleicht sind auch bei Ihnen Mitarbeiterstellen entfallen und Ihr Arbeitsvolumen wächst. Vielleicht sind Sie in Ihrem Unternehmen versetzt worden und Sie müssen sich nun in ein neues Aufgabenfeld einarbeiten. Vielleicht werden Sie ständig mit Neuem konfrontiert, weil eine Umstrukturierung die nächste jagt. Vielleicht sind Sie in der Sandwichposition einer mittleren Führungskraft und müssen Leistungsdruck »nach unten weitergeben«. Wie sollen Sie das den Leuten beibringen und trotzdem noch ein gutes Arbeitsklima erhalten? Auch als Topmanager stehen Sie unter wachsendem Druck: Wie sollen Sie nur mit der Ungeduld und den Begehrlichkeiten der Investoren und Fondsmanager umgehen?

Schlimmstenfalls ist Ihr eigener Arbeitsplatz gerade einer Umstrukturierung zum Opfer gefallen. Nun müssen Sie lernen, vom eher außengeleiteten Leben eines Angestellten auf die innengeleitete Lebensführung eines Selbstständigen umzuschalten. Die richtigen Ziele finden, Selbstdisziplin und Selbstmotivation einüben – wie geht das eigentlich? Außerdem wollen Sie noch für Ihre Familie da sein, einigen Hobbys nachgehen, glücklich werden und gesund bleiben.

Erkennen Sie sich wieder? Dann sollten Sie dieses Buch lesen (obwohl eigentlich nichts wirklich Neues drinsteht).

Schlüsselfragen

Wie gehe ich mit meinen Problemen, mit mir selbst, mit meinen Mitmenschen und Mitarbeitern am besten um? Was kann ich tun, um eine souveräne Persönlichkeit und Führungskraft zu werden? An Fragen dieser Art arbeiten sich die Menschen schon seit einigen Tausend Jahren ab. Längst sind alle Einstellungs-Kombinationen an den Schalthebeln unserer psychischen Benutzeroberfläche durchprobiert worden. Das Wichtigste kann man schon bei Buddha nachlesen, oder bei den Stoikern. Es geht heute nicht mehr darum, irgendwelche brandneuen Instant-Tricks mit vermeintlicher Wunderwirkung zu erfinden. Es gibt sie nicht, und ich fürchte, es wird sie auch nie geben, trotz aller »modernen Hirnforschung«.

Psychosynergetik: die Spreu vom Weizen trennen

Das Problem stellt sich eher so dar: Neben richtigen und wirksamen Ratschlägen gibt es auch eine Fülle von Konzepten und Empfehlungen, die wenig hilfreich sind oder gar schädlich. Hier gilt es, die Spreu vom Weizen zu trennen und einige wenige Ansätze mit großer Hebelwirkung so zu kombinieren, dass nochmals Synergieeffekte möglich werden. Diesem Ziel stellt sich die von mir und anderen in den letzten zwanzig Jahren entwickelte Psychosynergetik. Von einer breiten, alle relevanten Wissenschaftsdisziplinen umfassenden Basis aus wird in einem stufenweisen Auswahl-, Kohärenzbildungs- und Verdichtungsprozess das veränderungsrelevante Wissen extrahiert und zu mental gut handhabbaren Modellen integriert. Die kürzeste, prägnanteste und praxisbezogenste Darstellung finden Sie in diesem Buch.

Hebelwirkung: von oberflächlichen Verhaltensratschlägen zu komplexen Strategien der Selbstentwicklung

»Äußerliche« Tipps genügen nicht

Setzen Sie sich Ziele! Als Führungskraft müssen Sie klare Entscheidungen treffen! Und Ihre Mitarbeiter dafür begeistern! Seien Sie authentisch! Treten Sie Ihren Mitarbeitern nicht als Diktator, sondern als Coach gegenüber – alles klar? Vermutlich wird Sie ein solches Ratschlägekonvolut eher verunsichern. Was ist, wenn Sie Ihre »innere Stimme« nicht laut genug über die richtigen Ziele und Entscheidungen informiert? Wenn Sie gar nicht so recht wissen, wie es sich anfühlt, authentisch zu sein? Und wie macht oder lernt man das – »coachen«? Mit Ratschlägen, die sich auf das äußere Verhalten beziehen, ist es nicht getan. Wenn Sie sich bei einer Präsentation darauf konzentrieren, eine begeisternde Attitüde einzunehmen, dann richten Sie Ihren Fokus auf die Form und nicht auf den Inhalt. Auf diese Weise können Sie weder überzeugen noch wirklich begeistern.

Alle Verhaltensregeln, die Sie sich mit Ihrem bewussten Ich auferlegen, wirken »aufgesetzt«. Das Ergebnis ist ein verkrampftstockendes Verhalten, das wenig Effekt hat. Außerdem ist es anstrengend und auf Dauer kaum durchzuhalten.

Wir müssen lernen, reiche, stimmig-integrierte und reife Persönlichkeiten zu werden, die in komplexen Situationen »aus dem Bauch heraus« im gewünschten Sinne entscheiden und handeln.

»Entwicklungsratschläge«

Was wir dazu brauchen, sind »Entwicklungsratschläge«, die, wenn sie langfristig befolgt werden, zu den gewünschten Veränderungen in den tieferen Schichten unserer Persönlichkeit führen. Nur dann steht das Neue dem spontanen Reagieren und Verhalten zur Verfügung, mühelos und überzeugend.

Schritte der Veränderung

Entsprechend umfasst die in diesem Buch empfohlene Veränderungsstrategie drei Hauptschritte:

Im ersten Schritt wird ein Grundverständnis davon vermittelt, wie Gehirn und Psyche aufgebaut sind und funktionieren. Es werden jene Begriffe und Modelle abgeleitet, die für eine effektive Selbststeuerung zwingend erforderlich sind. Im zweiten Schritt werden Übungen, mentale Tools, förderliche Geisteshaltungen und Lebensstrategien erarbeitet, die zu persönlicher Meisterschaft führen.

Schon dies kann hilfreich sein – allein das Lesen dieses Buches wird manches, was beim Leser schon innerlich vorbereitet ist, in eine neue Qualität umschlagen lassen. Zu wirklich durchgreifenden Veränderungen aber wird zumeist erst der dritte Schritt führen: die Übung und Umsetzung der erarbeiteten Maßnahmen im Alltagsverhalten über einige Monate (wenn nicht über Jahre). Ziel ist, das Alltagsleben in einen permanenten Lern- und Entwicklungsprozess umzuwandeln. Psychosynergetik stellt Ihnen ein Netz zur Verfügung, mit dem Sie aus dem Erfahrungsstrom des Alltags ein Maximum an Nahrung für Ihr persönliches Wachstum herausfiltern können.

Selbstführung, Mitarbeiterführung, Leadership

In diesem Buch werden Selbstführung und Mitarbeiterführung integriert behandelt. Wer ein Meister der Selbstführung ist, der beherrscht die Mitarbeiterführung zu 80 Prozent und hat auch für die übrigen Anforderungen von Leadership eine hervorragende Grundlage. Darauf hat schon der Managementguru Peter Drucker immer wieder hingewiesen. Da Autoritätsbeweise hier aber nichts gelten, nenne ich Ihnen explizit zwei Gründe dafür:

Mitarbeiter-Empowerment

1. Moderne kooperative Führung heißt, die Mitarbeiter in Richtung Eigeninitiative und Selbstverantwortung zu coachen (»Empowerment«). Dafür muss man sich in andere einfühlen können, man muss ihre Potenziale und Interessen erkennen und kommunikationsfähig sein. Der zentrale Quell für diese Kenntnisse und Kompetenzen ist die Selbsterfahrung. Es gilt, persönliche Meisterschaft zu erwerben, um andere zu persönlicher Meisterschaft coachen zu können.

Komplexitätsmanagement

2. Die Anforderungen in Führung und Management sind zunehmend gekennzeichnet durch: Komplexität, Intransparenz, Beschleunigung, Unberechenbarkeit und Variantenreichtum. Eine Fülle von Fakten, unscharfen Eindrücken und vagen Wahrscheinlichkeiten muss von der Führungskraft oft innerhalb kürzester Zeit zu Entscheidungen integriert werden. Was über die Steuerung des eigenen Verhaltens gesagt wurde, gilt hier natürlich in besonderem Maße: Komplexe Managementanforderungen sind nicht allein dadurch zu bewältigen, dass unser bewusstes Ich mit algorithmischer Logik Schritt für Schritt die Checklisten aus dem Führungshandbuch abarbeitet.

Das »Hauptorgan« für den Umgang mit Komplexität sind Intuitionen (»Bauchgefühle«), die aus der Führungspersönlichkeit als Ganzheit erwachsen. Die Persönlichkeit wird zum entscheidenden Diagnose- und Managementinstrument des modernen Leaders.

Persönliche Meisterschaft

Was heißt es also heute, Führung zu lehren? Nun, im Kern nichts anderes, als dazu anzuleiten, eine komplexe, gut integrierte und auf Führungsprobleme meisterlich eingestimmte Persönlichkeit zu entwickeln.

Mitarbeiter-Empowerment und Komplexitätsmanagement – so könnte man also die zwei zentralen Herausforderungen moderner Führung auf den Begriff bringen. Und auf beide lautet die Antwort: Entwicklung persönlicher Meisterschaft. Folgerichtig liegt das Schwergewicht dieses Buches auf den Prinzipien der Entwicklung persönlicher Meisterschaft. In den letzten Kapiteln werden diese dann zu den Prinzipien der (Mitarbeiter-)Führung erweitert.

Die vier tragenden Säulen dieses Buches

Lassen Sie uns zum Abschluss dieser Einführung noch so etwas wie die vier tragenden Säulen von Psychosynergetik und persönlicher Meisterschaft skizzieren.

Grundsätzlich und langfristig betrachtet, hängen Erfolg, Glück und Gesundheit zusammen. Wie Studien gezeigt haben, fördern positive Gefühle Kreativität und Leistung. Erzielte Erfolge steigern das Glück. Glück und Erfolg nun wiederum fördern die Gesundheit.

Glück und Erfolg lassen sich auf dreierlei Weise erreichen:

1. Innere Freiheit – das »Buddha-Prinzip«

Begierden loslassen

Wenn es uns gelänge, unserer Wünsche und Begierden weitgehend Herr zu werden und sie da zum Schweigen zu bringen, wo sie nicht erfüllbar sind, dann wäre uns ein Zustand dauerhafter Zufriedenheit sicher. Entsprechend dienen die Prinzipien, Übungen und Techniken der inneren Befreiung dem Ziel, die eigenen Gefühle weitgehend unter Kontrolle zu bringen: positive Gefühle stärken, negative Gefühle abschwächen. Wir wollen lernen, Stressspannungen unter möglichst allen Bedingungen zu lösen und einen Zustand der entspannten Offenheit aufrechtzuerhalten. In diesem Zustand sind wir am sensibelsten auch für schwächste Umweltsignale und können im Handeln unsere angeborenen und gelernten Potenziale am besten entfalten.

Folgende Konzepte und Methoden gehen hier ein: Buddhismus und östliche Weisheitslehren, kognitive Verhaltenstherapie, Evolutionspsychologie, Grundlagen der Erkenntnisfunktionen (Synergetik des Gehirns, evolutionäre Erkenntnistheorie, Konstruktivismus).

2. Inneres Wachstum – das »Superman-Prinzip«

Kompetenzen entwickeln

Ein zweiter Weg zu Erfolg und Glück sieht so aus: Wir stärken unsere Fähigkeiten und Kompetenzen maximal, um unsere Umwelt weitestgehend in einem uns gemäßen Sinne verändern zu können. Entsprechend fokussieren die Prinzipien des inneren Wachstums auf die Akkumulation von Wissen und innerem Reichtum, auf das Einschleifen meisterlicher Kompetenzen. Insbesondere geht es um den Aufbau eines kohärenten Persönlichkeitskerns mit fest verinnerlichten Überzeugungen, Prinzipien und Werten. Hier haben Charisma, Überzeugungskraft und Durchsetzungsstärke ihren Ursprung, aber auch so wichtige Phänomene wie die Liebe zum Sein (n. A. Maslow).

Folgende Konzepte sind integriert: Ansätze aus der humanistischen Psychologie, die Logotherapie nach V. Frankl, das Flow-Konzept nach M. Csikszentmihalyi.

3. Die selbstentsprechende Nische – das »Paradies-Prinzip«

Sich seine Lebensumstände passend einrichten

Unsere Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit hat natürlich Grenzen. Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, seine Stärken, Schwächen, persönlichen Neigungen und Eigenheiten so genau wie möglich kennenzulernen. Dann kann jeder nach einer persönlichen, gesellschaftlichen und beruflichen Nische suchen oder sich eine solche schaffen, die den eigenen Veranlagungen maximal entgegenkommt. Je selbstentsprechender diese Nische ist, desto mehr kann jeder einfach »er selbst« sein und desto mehr fließt das Leben von allein, ohne dass man sich besonders anstrengen müsste. Mit der Erforschung der Talente und Stärken des Menschen hat sich vor allem die positive Psychologie in den letzten Jahren intensiv beschäftigt.

Synergetische Kombination

Wenn wir auch nur eines dieser drei Konzepte mit Absolutheit umsetzen könnten, dann wäre alles gut. Allerdings: Keiner von uns wird zu 100 Prozent Buddhaschaft erlangen oder ein wahrer Superman werden. Und das Paradies wird auch niemand finden. Wie sicher auch Sie schon bemerkt haben, muss man ziemlich lange mit offenem Mund in der Gegend herumstehen, ehe eine gebratene Taube hineinfliegt. Es ist deshalb sinnvoll, diese Prinzipien synergetisch zu kombinieren und auf allen drei Wegen so weit zu kommen wie möglich. Wichtige Wegweiser hierfür bietet Ihnen die Psychosynergetik.

Auch hier gilt allerdings die unbequeme Konsequenz der Wegweiser-Metapher: Gehen müssen Sie den Weg schon selbst.

Doch das lohnt sich in vieler Hinsicht: Das Vorankommen hierbei steigert nicht nur das persönliche Glück, es schafft auch gute Voraussetzungen dafür, auf eine förderliche Weise mit anderen Menschen umzugehen – und das ist Säule Nr. 4.

4. Die Kunst der Mitarbeiterführung – das Aikido-Prinzip

Die unschönen Seiten unseres westlichen Umgangs miteinander zeigen sich im Box»sport«: Man blockt die Energie des anderen ab und versucht, diesen direkt und mit vollem Einsatz der eigenen Energie zu Fall zu bringen. Druck erzeugt hier Gegendruck. Der Energieeinsatz ist hoch und es geht viel kaputt.

Die Eigenenergie des Gegenübers nutzen

Demgegenüber kommt östliche soziale Intelligenz vollendet im Aikido zur Entfaltung. Aikido ist eine »sanfte« asiatische Kampfkunst, in der versucht wird, mit minimalem eigenem Einsatz eine maximale Wirkung zu erzielen. Die Angriffsenergie des Gegners wird dabei nicht durch eigenen Energieeinsatz gestoppt oder gebrochen. Sie wird vielmehr geschickt so umgelenkt, dass sie sich am Ende gegen den Angreifer selbst wendet. Wenn der Gegner etwa einen Faustschlag ausführt, zieht man ihn am Schlagarm, sodass er nach vorn aus dem Gleichgewicht gerät, und führt ihn dann im Halbkreis zu Boden.

Indirektes Führungshandeln

Dies ist ein ideales Modell für kluges Führungshandeln: so wenig und so indirekt wie möglich, dafür aber genau an den richtigen Stellen und zum richtigen Zeitpunkt in die soziale Selbstorganisation eingreifen – und auf diese Weise andere Menschen und Teams soweit es geht aus eigenem Vermögen ans Ziel kommen lassen.

Den Hintergrund hierfür bilden neben der Synergetik und dem (radikalen) Konstruktivismus vor allem die sogenannten »systemischen (Therapie-)Ansätze«.

1 Grundlagen – was Sie über Gehirn und Psyche wissen müssen

1.1 Flow – Surfen auf den Wellen des Seins

Flow als Generalschlüssel

Wenn man die Menschen fragt, was sie sich am meisten wünschen, kommen Antworten wie: Glück, Gesundheit, gelingende Beziehungen, Spontaneität, Kreativität und beruflicher Erfolg. Tatsächlich gibt es eine Art Generalschlüssel zu all dem: Flow. Wem es gelingt, oft und lange im Flow-Zustand zu leben, der hat die besten Chancen darauf, dass sich diese Wünsche erfüllen. Sie glauben mir nicht? Lassen Sie sich überzeugen. Was also ist Flow?

Flow-Erfahrungen

Zuerst vielleicht einmal ein paar beispielhafte Schilderungen von Flow-Erfahrungen, die von Mihaly Csikszentmihalyi (2004), dem geistigen Vater des Flow-Konzepts, gesammelt wurden:

So gab ein Chirurg zu Protokoll: »Bei einem guten operativen Eingriff ist alles, was man tut, wesentlich, jede Bewegung ist absolut richtig und notwendig; da ist Eleganz, nur wenig Blutverlust, minimales Trauma … Das ist sehr angenehm, vor allem wenn das Team reibungslos und effizient zusammenarbeitet.«

Der Dichter Richard Jones schilderte seine Empfindungen beim Schreiben so: »Ich habe das Gefühl, dass da Energie durchläuft und ich blockiere sie nicht und setze ihr nichts entgegen. Eine sehr intelligente Energie fließt durch den Körper, wenn man schreibt, und es ist die Energie, die sich konzentriert und umgesetzt wird, nicht der Geist. Flow tritt ein, wenn ich es dem Schreiber in mir nicht gestatte, sich ins Schreiben einzumischen. Und wie mische ich mich ein? Ich fange an nachzudenken.«

Und schließlich der Komponist Ralph Shapey: »Man ist in einem Zustand der Ekstase, und zwar so sehr, dass man das Gefühl hat, nicht zu existieren. Ich habe das immer wieder erlebt. Meine Hand scheint losgelöst von mir, und ich habe nichts mit dem zu tun, was geschieht. Ich sitze nur und beobachte, ehrfürchtig und staunend. Und die Musik fließt einfach von sich aus heraus.«

Flow literarisch

Eine sehr schöne Beschreibung des Flow-Zustandes in der Literatur fand Csikzentmihalyi in dem Roman Anna Karenina von Lew Tolstoi, wo der reiche Landbesitzer Lewin von seinem Leibeigenen Tit lernt, mit einer Sense Gras zu mähen:

»Lewin verlor jedes Bewusstsein der Zeit und wusste absolut nicht mehr, ob es spät oder früh war. In seiner Arbeit ging jetzt eine Veränderung vor sich, die ihm höchsten Genuss bereitete. Mitten in der Arbeit hatte er Augenblicke, in denen er vergaß, was er tat; es ward ihm leicht zumute, und in diesen Augenblicken war sein Streifen gerade so gleichmäßig und schön, wie Tits. Kaum aber besann er sich darauf, was er tat, und wollte sich Mühe geben, es besser zu machen, als er gleich die ganze Schwere der Arbeit fühlte und sein Streifen schlecht ausfiel … Und immer häufiger kamen jene Augenblicke des halb unbewussten Zustandes, in dem man nicht daran zu denken brauchte, was man tat. Die Sense mähte von selbst. Das waren glückliche Augenblicke.« (zit. n. Csikszentmihalyi 2004, S. 85)

Aus diesen und anderen Schilderungen lassen sich folgende Charakteristika des Flow-Erlebens herauskristallisieren:

Die Essenz der Flow-Erfahrung

• Alles geht leicht. Mit verhältnismäßig geringem Aufwand wird eine große Wirkung erzielt. Man muss sich nicht anstrengen, und wenn doch, dann wird die Anstrengung als angenehm und im Vergleich zur Aufgabe als gering empfunden.

Im Tun aufgehen

• Es läuft wie von selbst. Nicht ich handle, sondern »es« handelt. Man geht auf im Fluss des Seins, fühlt sich als Teil eines Prozesses, der größer ist als man selbst. Was geschieht, folgt nicht einer Planung unseres bewussten Ich. Es erwächst aus einer irgendwie dem Sein unmittelbar innewohnenden Entfaltungslogik. Das bewusste Ich wird ganz oder nahezu vom Gegenstand der Tätigkeit absorbiert. Man vergisst sich selbst und die Zeit.

• Es entstehen Empfindungen absoluter Sicherheit und absoluten Vertrauens, Gefühle der Freude und Harmonie, Gefühle des Einsseins mit der Welt.

• Alle angeborenen und gelernten Potenziale können sich optimal entfalten. Die Chancen auf hohe Leistung und Kreativität sind maximal.

Flow-Situationen

Elementarformen dieses Flow-Zustandes kann man relativ leicht bei einfachen Alltagsaktivitäten erleben, wenn man entspannt ist und sich voll auf die Empfindungen und Wahrnehmungen im Hier und Jetzt konzentriert: beim Gehen und Abwaschen, beim Bügeln oder Fensterputzen. Intensivere Flow-Erfahrungen aber macht man bei komplexen und schwierigen Tätigkeiten, sofern man sich die nötigen Kompetenzen angeeignet hat: beim Tanzen oder Musizieren, beim Sport oder Schachspiel, beim Schreiben eines Textes oder beim Nachdenken und Diskutieren über Mathematik oder Philosophie, beim Halten eines Vortrags oder bei der Leitung einer Konferenz.

Wichtige Fragen sind: Wie wäre es, wenn wir den überwiegenden Teil unseres täglichen Tuns mühelos im Flow verrichten könnten? Wäre das nicht wirklich so etwas wie ein Surfen auf den Wellen des Seins? Wie können wir das erreichen?

Stress und Flow als Gegenpole

Flow ist das Gegenteil von Stress und stressassoziierten ungesunden psychischen Zuständen (z.B. Angstzustände, Depressionen). Stress entsteht unter ganz bestimmten Umständen: wenn ich reflektierend aus dem Sein heraustrete und ein Soll definiere, das zum Ist in Differenz steht, wenn ich diese Differenz bewusst bewerte und als bedrohlich empfinde und wenn ich mit meinem Willen Druck ausübe, um das Sein in die Form des gedanklich definierten Soll zu pressen (wir werden das später noch ausführlich besprechen).

Wenn Stress in Flow umschlägt

Besonders in Situationen, die oft mit Stress und Anspannung verbunden sind, wird der Eintritt von Flow als überwältigende Glückserfahrung erlebt. Denken Sie etwa an die Entwicklung einer Liebesbeziehung, bei der die ersten Umarmungen und Küsse ganz ohne Planung und Verkrampfungen wie von allein geschehen und Sie das Gefühl haben, dass sie sich ohne bewusste Entscheidung notwendig ereignen. Oder wenn man zu ein und demselben Thema sehr oft Vorträge hält – irgendwann beherrscht man den Stoff so traumhaft sicher, dass das Erleben in einen Dauer-Flow umschlägt.

Wie insbesondere die Studien von M. Csikszentmihalyi (1993) gezeigt haben, tragen häufige Flow-Momente im Alltag entscheidend zu Glück und Lebenszufriedenheit bei. Flow ist die höchste Form von psychischer Harmonie. Man kann davon ausgehen, dass sie auch harmonisierend auf körperliche Funktionsabläufe wirkt und so zur psychosomatischen Gesundheit beiträgt.

Wenn es also so etwas wie einen Generalschlüssel, einen Haupthebel zur Verwirklichung unserer wichtigsten Wünsche gibt, dann ist das Flow.

Es wäre wunderbar, wenn es uns gelingen könnte, möglichst lange und oft im Flow zu sein. Leben wie ein Vogel fliegt – so formulieren es die Buddhisten. Doch wie kommen wir zu Flow?

Flow-Potenzial

Nun, in der konkreten Situation gibt es keine Garantie dafür, in den Flow-Zustand zu kommen. Aber wir können in unserer Persönlichkeit Bedingungen schaffen, die unsere Chancen auf Flow erhöhen. Diese Bedingungen wollen wir als Flow-Potenzial bezeichnen. Je mehr Flow-Potenzial wir in uns aufbauen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, im Alltag oft und lange Flow zu leben. Wie können wir unser Flow-Potenzial steigern? Dabei helfen uns zwei Prozesse, die sich wechselseitig fördern: innere Befreiung und inneres Wachstum.

1.2 Das Tausendfuß-Problem: Ich und Selbst

Die reflexive Blockierung

Die Problematik von Flow und Stress wird sehr schön durch die Geschichte vom Tausendfuß und dem Spiegel illustriert: Elegant und unbefangen schlängelt sich ein Tausendfuß durch den Wald. Doch dann trifft er auf eine Spiegelscherbe und erschrickt ganz fürchterlich, als er erstmals in seinem Leben sein eigenes Abbild sieht. Wie kann man denn mit so vielen Beinen laufen, ohne sich heillos zu verheddern? Mit welchem Bein muss ich eigentlich beginnen, wenn ich wieder loslaufen will? Erschreckt stellt er fest, dass er das gar nicht weiß. Seither steht er verzweifelt und bewegungsunfähig vor der Spiegelscherbe.

Vor der Begegnung mit dem Spiegel war unser Tausendfuß im Flow. Der Blick in den Spiegel bescherte ihm Stress mit der Folge einer reflexiven Blockierung. Der unreflektiert als Ganzheit funktionierende Tausendfuß steht für das, was wir als Selbst bezeichnen wollen. Der Spiegel hingegen symbolisiert das bewusste Ich.

Chancen und Risiken des Bewusstseins

Flow ist ein Zustand, in dem wir uns als Ganzheit erfahren, die nur von einem ganzheitlichen Selbst bestimmt wird. Es gibt nur das Selbst, und sonst nichts. Wenn sich aus diesem Selbst eine zweite Ebene, eine Bewusstseinsebene heraushebt, die eine Selbst-Bespiegelung ermöglicht, entstehen neue Chancen und neue Risiken: Chancen im Sinne neuer Möglichkeiten der Kreativität, des Lernens, aber auch der Selbsterfahrung und des Selbstgenusses; Risiken in Form möglicher Teufelskreise, die sich zu vielfältigen Formen psychischer Störungen aufschaukeln können.

Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund diese beiden zentralen Begriffe Ich und Selbst noch einmal definieren:

Ich = wertendes und intendierendes Bewusstsein (d.h. ein Bewusstsein, das Ist/Soll-Vergleiche durchführt und über die Willenskraft Veränderungen des Ist anstrebt).

Selbst = Gehirn und Körper mit allen Potenzialen, die sich entweder unbewusst entfalten oder von einem nicht wertenden, nicht intendierenden Bewusstsein begleitet werden (ein Bewusstsein, das einfach nur da ist und das sich entfaltende Sein annimmt, wie es ist).

Wenn wir diese Begriffe im hier definierten Sinn verwenden, werden sie kursiv gesetzt.

Reflexive Blockierungen im Alltag

Erinnert Sie das Tausendfuß-Syndrom an Situationen aus Ihrem Alltag? Als ich vor einigen Jahren in einer fremden Stadt dringend Geld benötigte, versuchte ich, mich auf dem Weg zum Bankautomaten an meine Geheimnummer zu erinnern. Entsetzt musste ich feststellen, dass sie mir nicht mehr als explizites Wissen zur Verfügung stand. Ich geriet in Stress und war nicht dazu in der Lage, dem Automaten auch nur einen verdammten Cent zu entlocken. Zu Hause hatte ich die Nummer in den Monaten zuvor immer mehr »automatisiert« eingegeben, ohne bewusst darüber nachzudenken. Es gibt spezielle und wirksame Techniken, um solche Fallen zu vermeiden beziehungsweise wieder aus ihnen herauszukommen, wie zum Beispiel die paradoxe Intention, auf die wir später genauer eingehen (siehe Kapitel 2.3).

1.3 Das Ich

Vernunftauge und pragmatische Einstellung

Damit unser Ich seine Bewertungs- und Veränderungsaufgaben erfüllen kann, braucht es zwei Kontrollorgane – wir wollen sie hier als Vernunftauge und als Synergieohr bezeichnen.

Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie Sie in der Tanzschule das Tanzen gelernt haben oder im Sportunterricht das Kugelstoßen. Beim Erlernen so komplexer Bewegungsmuster gib es zwei grundlegende innere Einstellungen: In der pragmatischen Einstellung konzentriert man sich auf Korrekturen an den Details der Bewegung, die beispielsweise die Fußstellung oder die Körperhaltung betreffen. Hierbei helfen auch Korrekturen von außen, etwa durch Hinweise des Lehrers/Trainers oder auch durch den Blick in einen Spiegel. Diese auf Veränderungen am Detail gerichtete Perspektive wird uns vom Vernunftauge ermöglicht.

Teil und Ganzes

Da das Fenster unseres Bewusstseins aber so eng ist, können wir immer nur ein oder wenige Details gleichzeitig in den Blick unseres Vernunftauges nehmen. Auf diese Weise lässt sich zwar absichern, dass zum Beispiel die Stellung des rechten Fußes korrekt ist. Es lässt sich aber nicht erfassen, ob die Koordination der komplexen Gesamtbewegung des Körpers optimal ist. Diese ganzheitsbezogene Information liefert uns nun das Synergieohr in Form von Stimmigkeits- oder Unstimmigkeitsempfindungen, die wir als Synergiegefühle bezeichnen. Wir haben ein sicheres Gefühl für die Harmonie unserer Gesamtbewegung beim Tanzen oder beim Kugelstoßen.

Synergieohr und ästhetische Einstellung

Bei sehr komplexen Bewegungen, die dem perfekten Gelingen nahe sind, können sich die vom Synergieohr ausgehenden Synergiegefühle zu einer intensiven Funktionslust steigern. Sie weckt ein starkes Bedürfnis danach, diese Bewegungen immer und immer wieder auszuführen und womöglich noch auszubauen. Das ist ja der eigentliche Grund, warum wir tanzen oder Sport treiben. Und: Diese vom Synergieohr ausgehenden Stimmigkeitsgefühle sind natürlich auch die Grundlage der im Zusammenhang mit dem Flow-Zustand erwähnten Harmoniegefühle. Diese Tätigkeitseinstellung, die auf das Erspüren der Harmonie des Ganzen gerichtet ist, nennen wir ästhetische Einstellung.

Ein zweistufiger Prozess: Wir erarbeiten uns unter Führung des Vernunftauges in pragmatischer Einstellung die Teilbewegungen und fügen diese dann unter Führung des Synergieohres in ästhetischer Einstellung zu einem harmonischen Ganzen zusammen.

Beispiele

Diese Form der Zusammenarbeit gibt es in ähnlicher Form in der Wahrnehmung und im Denken: Ein Komponist »bastelt« unter Verwendung seines theoretischen Wissens mit dem Vernunftauge bestimmte Akkorde. Zwischendurch aber wechselt er immer wieder einmal in eine ästhetische Einstellung, um mit dem Synergieohr zu erspüren, ob sie sich zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Ein Physiker rechnet mit dem Vernunftauge an bestimmten Teilproblemen herum und befragt zwischendurch sein Synergieohr, ob ihn die Teilschritte hin zu einer stimmigeren, »schöneren« Gesamttheorie führen (er befragt seine »Intuition«). Überall, wo hochkomplexe Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen, spielen diese integrierend-ganzheitsbezogenen Intuitionen eine zentrale Rolle, insbesondere bei Führungsentscheidungen in Wirtschaft oder Politik.

Übrigens hat auch jede einfache Alltagstätigkeit vom Gehen bis zum Fensterputzen eine ästhetische Seite. Wenn wir uns nicht durch alle möglichen »Zwänge« unter Spannung setzen (lassen), uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren und wirklich achtsam für unsere Empfindungen sind, lässt sich auch solchem Tun Genuss entlocken. In der Folge kann man auch dabei einfache Flow-Erfahrungen machen.

Fazit

So leistet also das Vernunftauge die punktuelle Kontrolle/Bewertung der Teile und das Synergieohr die globale Kontrolle/Bewertung des Ganzen.

1.4 Das Selbst

1.4.1 Natürliche Potenziale: Psychoneurale Selbstordnungskräfte

Unflexible Computer

Wenn ich Sie jetzt fragen würde »Wie arbeitet das Gehirn?«, würden wahrscheinlich einige von Ihnen antworten: Na, vielleicht so ähnlich wie ein Computer. Ich muss Sie enttäuschen – kaum eine Antwort könnte falscher sein. Computer müssen gebaut und programmiert werden. Sie folgen starren Regeln, machen in standardisierter Form immer das Gleiche. Wenn sie doch einmal etwas tun, was nicht vorbestimmt ist, dann sind sie meist kaputt.

Kreatives Gehirn

Das Gehirn ist das genaue Gegenteil davon. Hier entsteht ständig Neues: Jede Bewegung, jeder Gedanke und jede Wahrnehmung, die Ihnen bewusst wird, hat eine völlig neue Struktur, die es so vorher noch nie gegeben hat und auch nie wieder geben wird. Das Gehirn ist aus sich heraus kreativ. Es nutzt dafür die Kräfte der Selbstorganisation, die der Materie unter bestimmten physikalischen Rahmenbedingungen innewohnen.

Aus dem Zueinander von Zufallsvariationen, Selektionsprozessen und bestimmten »Gesetzen des Zusammenwirkens« entstehen aus einem »freien Spiel der Kräfte« neue Strukturen in unserer Welt.

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Abb. 1: Beispiel für Selbstorganisation in der Wahrnehmung

Chaotischer Suchprozess

Abbildung 1 vermittelt Ihnen einen kleinen sinnlichen Eindruck vom Wirken der psychoneuralen Selbstordnungskräfte in unserem Gehirn. Einem fluktuierenden Wabern gleich, tastet unser Sehsystem das Reizmuster auf der Suche nach einer sinnvollen Deutung ab. Allerdings lässt dieses Reizmuster viele Deutungen in Form großer und kleiner Rosetten zu, sodass dieser chaotische Suchprozess nicht zur Ruhe kommt. Wir erleben ein vom Zufall mitbestimmtes Herumprobieren, wie wir es aus dem praktischen Handeln und dem theoretischen Lösen von Problemen in ähnlicher Weise kennen (und wie es zugleich Maschinen und Computern völlig wesensfremd ist).

Selbstorganisation als Elementarschritt der Evolution

Selbstorganisationsprozesse dieser Art sind die universellen schöpferischen Kräfte, die überall in Natur, Psyche und Gesellschaft wirksam sind. Sie bilden die Elementarschritte, die auch die komplexeren Evolutionsprozesse in unserem Universum vorantreiben – etwa die Darwin’sche Evolution, welche die biologischen Arten und die Strukturen unseres Körpers geschaffen hat, aber auch die soziokulturelle Evolution, welche die Strukturen der Gesellschaften und die geistigen Inhalte der Kulturen erzeugt.

Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken

Derartige Selbstorganisations- und Evolutionsprozesse in komplexen Systemen werden von der modernen Natur- und Systemwissenschaft seit einem Vierteljahrhundert intensiv erforscht. Führend ist hier die Synergetik, die sich speziell auch mit Selbstorganisationsprozessen im Gehirn beschäftigt hat. Diese »Lehre vom Zusammenwirken« wurde von dem bedeutenden deutschen Physiker Hermann Haken begründet. Auf diesem Fundament aufbauend habe ich dann in Zusammenarbeit mit anderen die Psychosynergetik entwickelt. Im Rahmen dieses Buches kann allerdings auf die wissenschaftlichen Einzelheiten nicht weiter eingegangen werden. Sollten Sie sich dafür interessieren, empfehle ich Ihnen weiterführende Bücher (Haken 1995, Haken u. Haken-Krell 1997, Hansch 2004).

Das Potenzial der Selbstorganisation ist immer verfügbar

An dieser Stelle sollte lediglich eines deutlich werden: Unser Selbst ist untrennbar eingebunden in die Evolution unseres Universums. Die universellen schöpferischen Kräfte der Natur wirken auch in unserem Körper und unserer Psyche. Sie sind unverlierbar präsent und immer verfügbar, wenn wir sie nicht im Stress blockieren. Das Wissen darum kann eine wichtige Basis unseres Verbundenheitsgefühls mit der Natur und eine Stütze für unser Selbstvertrauen werden.

1.4.2 Angeborene Potenziale: Erbantriebe

Wie sich Instinkte bei uns zeigen

Wenn Sie völlig freie Wahl hätten und alle Möglichkeiten dieser Welt – wo würden Sie sich wohl Ihr Traumhaus bauen lassen? Mitten hinein in einen dichten Wald? Sicher nicht. Die meisten würden wohl so oder ähnlich antworten: auf einem hohen Berg mit Weitblick über Gewässer und gegebenenfalls einer Felswand im Rücken. Entsprechend sind dies auch die teuersten und gefragtesten Immobilienlagen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum das so ist? Die Antwort: Für unsere Vorfahren waren das die sichersten Plätze – Wasser und Felswand boten Schutz und die Höhe erlaubte es, herannahende Feinde rechtzeitig zu erkennen. Da unsere entfernten Vorfahren noch nicht über Einsicht und Denken verfügten, musste sich ein Instinkt entwickeln, der sie an solche sicheren Plätze trieb und ihnen dort positive Gefühle bescherte.

Bewältigung der Überlebensprobleme unserer Vorfahren

In ähnlicher Weise entwickelten sich für alle Verhaltensweisen, die unter den Bedingungen unserer Vorfahren dem eigenen Überleben oder dem Überleben der Art dienlich waren, entsprechende angeborene Antriebe. Als stammesgeschichtliches Erbe gehören sie zum »fest verdrahteten« Teil unseres Gehirns. Typische Auslösesituationen mit bestimmten, genetisch fixierten Merkmalen erzeugen dabei charakteristische Gefühle. Diese Emotionen drängen uns dann zu einem Verhalten, das beispielsweise darauf zielt, uns in den Besitz bestimmter Objekte zu bringen oder eine bestimmte äußere Situation herzustellen: Das Dickicht des Waldes erzeugt Unbehagen, das uns dazu bringt, für die Rast noch die nächste Anhöhe zu erwandern. Dort löst sich dann die Spannung und wir fühlen uns wohl.

Die wichtigsten Erbantriebe

Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang von Erbantrieben, Erbbedürfnissen und Erbgefühlen sprechen. Neben dem erläuterten »Orts- und Sicherheitsantrieb« gibt es folgende wichtige Erbantriebe:

• Atemantrieb

• Ernährungsantrieb

• Temperaturregulationsantrieb

• Schmerzvermeidungsantrieb

Weitere, insbesondere für das soziale Verhalten wichtige Erbantriebe werden wir noch mehr im Detail besprechen.

Zuvor aber sollten wir uns zweierlei klar machen:

»Unzeitgemäße« Erbantriebe

1. Die Erbantriebe wurden von der Evolution zur Zeit unserer tierischen und steinzeitlichen Vorfahren geformt. Sie sollten unseren Vorfahren bei der Lösung von typischen Problemen helfen, mit denen sie in ihrer natürlichen Umwelt häufig konfrontiert waren.

Wir leben heute unter völlig veränderten kulturellen Bedingungen. Daher drängen uns viele unserer ererbten Gefühle und Verhaltenstendenzen in eine falsche Richtung – sie tragen nichts zur Bewältigung unserer aktuellen geistig zu lösenden Probleme bei oder sind dabei sogar hinderlich.

So führt unser unter Mangelbedingungen entstandener Ernährungsantrieb durch leicht überkalorische Ernährung zum Anlegen von Fettpolstern, die dann aber, da es diese Notzeiten nicht mehr gibt, nicht abgebaut werden und weiter zunehmen. Es ist ein zentrales Moment persönlicher Meisterschaft, die oft grundfalsche Logik vieler unserer Erbgefühle zu erkennen und einen souveränen Umgang mit ihnen zu erlernen.

»Unmoralische« Erbantriebe

2. Die Evolutionsmechanismen, welche die Zielrichtung unserer Erbantriebe geprägt haben, sind ohne Seele und Moral. Sie folgen der kalten Logik der Genausbreitung: Gefördert werden all die Verhaltensweisen, die zum Überleben der meisten Nachkommen führen. Viele der ererbten Verhaltensimpulse sind deshalb unter moralischen Aspekten ziemlich zweifelhaft – nicht umsonst spricht man vom »inneren Schweinehund« oder vom »Tier im Menschen«. Allerdings sind wir Menschen, im Unterschied zum Tier, unseren ererbten Verhaltensimpulsen nicht wie Sklaven ausgeliefert. Nur noch selten gehen sie mit uns durch, etwa, wenn wir bei einem heftigen Streit wutschnaubend zum Schlag ausholen.

Die kulturellen Gegenkräfte

In aller Regel sind ererbte Verhaltensimpulse bei uns Menschen nur ein Faktor im Prozess der Verhaltensformung, der mit anderen Faktoren zu einem Kompromiss »verrechnet« wird. Die wichtigsten dieser anderen Faktoren sind bewusste Willensimpulse und Synergiegefühle, die zum Beispiel für verinnerlichte kulturelle Normen und Werte stehen (wir sprechen hier von »kultureller Aufhebung«, siehe Kapitel 3.3 und Exkurs II im Anhang). So kann jemand, der abnehmen will, mit seinem Willen dem Hunger widerstehen. Bei einem politischen Aktivisten können Überzeugungen so stark verinnerlicht sein, dass sie im Hungerstreik sogar seinen »Überlebensinstinkt« aufwiegen.

Kurzum: Der Mensch ist sehr wohl in der Lage, sich zum Meister über seine angeborene Natur aufzuschwingen. Von der persönlichen Verantwortung hierfür kann man niemanden entbinden:

Aus dem Vorhandensein bestimmter genetisch geprägter Verhaltensneigungen kann keine Entschuldigung oder Rechtfertigung für ein Verhalten abgeleitet werden, das andere Menschen schädigt.

Weitere wichtige Erbantriebe

Die für die Themenstellung unseres Buches wichtigsten Erbantriebe sind:

• Ruhe- und Schlafantrieb

• Neugier- und Spielantrieb

• Sexualantrieb

• Eifersuchtsantrieb

• Fürsorge- und Kooperationsantrieb

• Aggressionsbereitschaft

• Angstantrieb und Stressreaktion

• Macht-, Status- und Kontrollantrieb

• Bereitschaft zur Unterordnung

Welche Bedeutung haben diese Antriebe heute für uns?

Ruhe- und Schlafantrieb

Zu wenig Bewegung

Sind alle anderen Erbantriebe entspannt, setzt der Ruheantrieb ein: Es entsteht das Bedürfnis, sich auf ein warmes, weiches Plätzchen zu betten und dort möglichst wenig zu tun – sich zum Beispiel auf der Couch räkeln und fernsehen. Auch dies war für unsere Vorfahren sinnvoll: Es sparte Energie und verminderte Risiken – heute verschärft es das Problem, dass viele Menschen als Folge ihres Bewegungsmangels übergewichtig sind.

Neugier- und Spielantrieb

Körper und Umwelt lernend erkunden

Insbesondere Kinder und Jugendliche entwickeln einen Drang, ihre Umgebung zu erkunden und die Möglichkeiten des eigenen Körpers im Bewegungsspiel auszutesten und zu erweitern. Aber die Neugier ist nicht auf die Kindheit beschränkt. Auch im Erwachsenenalter werden viele Menschen noch von der Suche nach Abwechslung und neuen Reizen umgetrieben.

Sexualantrieb

Warum die Neigung zum Seitensprung so verbreitet ist

Einer der stärksten Erbantriebe ist der Sexualantrieb – über das ganze Drumherum muss man sich seit Oswald Kolle nicht mehr verbreiten. Da die Evolution auf eine möglichst hohe Nachkommenzahl abzielt, ist unser Bedürfnis nach immer neuen sexuellen Reizen ziemlich stark – bei den Männern meist noch etwas mehr als bei den Frauen (hierfür lassen sich evolutionstheoretische Gründe anführen, siehe Buss 1994). Daraus erwächst eine mehr oder weniger starke Neigung zu Seitensprüngen, und das selbst vor dem Hintergrund fester und harmonischer Beziehungen.

Nach dem 30. Präsidenten der USA wird das als »Coolidge-Effekt« bezeichnet – offenbar ist es nicht erst seit der Clinton/Lewinsky-Affäre üblich, Probleme der menschlichen Sexualität am Beispiel der amerikanischen Präsidenten zu erläutern. Die zugrunde liegende Anekdote möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Präsident Calvin Coolidge und seine Frau besichtigten eine Regierungsfarm, wobei es das Protokoll aus irgendwelchen Gründen wollte, dass beide getrennt durch die Anlagen geführt wurden. Als Mrs. Coolidge die Hühnerställe gezeigt wurden, fragte sie, ob der Hahn mehr als einmal täglich kopuliere. »Dutzende Male«, antwortete der Führer. »Sagen Sie dies bitte dem Präsidenten«, bat daraufhin Mrs. Coolidge. Als der Präsident wenig später durch die Hühnerställe ging und er über das Treiben des Hahns aufgeklärt wurde, fragte er: »Jedes Mal dieselbe Henne?« »Oh nein, Mr. President, immer eine andere!« »Sagen Sie dies meiner Frau«, bat der Präsident.

Eifersuchtsantrieb

Egoistische Gene

Natürlich wäre es für unsere Gene, die nur an ihrer eigenen Ausbreitung interessiert sind, fatal, wenn unsere materiellen Ressourcen an fremde Kinder mit fremden Genen »verloren« gingen, anstatt dem Überleben unserer eigenen Kinder zu dienen. Deshalb pflanzten uns unsere Gene die Eifersucht ins Herz: Die Eifersucht des Mannes soll verhindern, dass er nach einem unbemerkten Seitensprung seiner Frau irrtümlich die Kinder eines fremden Konkurrenten durchfüttert. Die Eifersucht der Frau soll vermeiden, dass ihren Kindern die Ressourcen und der Schutz des Vaters verloren gehen, sollte er sich dauerhaft einer Geliebten zuwenden.

Fürsorge- und Kooperationsantrieb

Vor allem bei Verwandtschaft und Gegenleistung

Viele überlebenswichtige Aufgaben schultern sich gemeinsam besser als allein, zum Beispiel die Aufzucht der Kinder oder die Jagd auf große Tiere. Um die entsprechenden wechselseitigen sozialen Verhaltensweisen in der Familie beziehungsweise in der Steinzeithorde sinnvoll aufeinander abzustimmen, mussten sich komplizierte Systeme erblicher Empfindungen und Verhaltensimpulse entwickeln. Zu ihnen zählen zum Beispiel: Empfindungen und Verhaltensweisen der partnerschaftlichen und elterlichen Liebe und Fürsorge, Verhaltensweisen der Kinder, die elterliche Zuwendung erzeugen (z.B. herzergreifendes Weinen), Mitgefühl und Hilfsbereitschaft, Bedürfnisse nach sozialen Beziehungen und Geborgenheit in einer Gruppe, Dankbarkeit sowie Schuld- und Schamempfinden.

Auch dieser Antrieb ist leider nicht frei von »genetischem Egoismus«: Es gibt nachweislich Tendenzen, die Hilfe auf genetisch Verwandte zu beschränken, die ja quasi einen Teil der eigenen Gene als Kopie in sich tragen (Geschwister beispielsweise haben zu 50 Prozent übereinstimmende Gene). Außerdem richtet sie sich noch an gut bekannte Hordenmitglieder, von denen man Gegenleistungen erwarten kann, nach dem Prinzip »Wie du mir, so ich dir«. Tiere, Kinder und auch Erwachsene können gegenüber Fremden und Ausgestoßenen recht kalt und grausam sein.

Gerechtigkeitsempfinden

Gleichwohl ist in diesem Kontext wohl ein Gefühl für die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung entstanden. Dieser »Reziprozitätsinstinkt«, der auf gleichwertigen Austausch drängt, ist sicher eine wichtige Basis unseres Fairness- und Gerechtigkeitsempfindens.

Aggressionsbereitschaft

Wut bei Widerstand