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DR. WERNER BRINKER (HRSG.)
UND KIRSTIN HENGELAGE

Next Energy

Erzählungen aus unserer Zukunft

Unter Mitarbeit von Prof. Dr. Carsten Agert; Prof. Dr. Christoph
Böhringer; Prof. Dr. Gert Brunekreeft; Dr. Jörg Buddenberg;
Dr. Jörg Hermsmeier; MBA EUM Sebastian Jurczyk;
Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Kaminski; Prof. Dr. Stephan Rammler;
Prof. Dr. Ulrich Wagner

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86936-610-4

Lektorat: Eva Gößwein, Goldbach
Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de
Umschlagfoto: 75tiks/Fotolia

©2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2014 erschienenen Buchtitel “Next Energy” von Dr. Werner Brinker (Hrsg.) und Kristin Hengelage, ©2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-610-4
ISBN epub: 978-3-95623-137-7

www.gabal-verlag.de

Inhalt

Willkommen in der Zukunft

1 | Wie leben wir morgen?

Wir sind Familie Janssen – Personen und Orte der Zukunftserzählung

Samstag, 20. August 2050: Friesenhaus auf Fitnesskur

2 | Wie funktioniert unser Energiesystem?

Donnerstag, 15. September 2050: den Energiedinosauriern auf der Spur

Menschen brauchen Energie – Energiegeschichte ganz kurz

Es werde Licht! Elektrizität hat die Welt verändert

Energiewirtschaft, die große Unbekannte – Ein Blick auf die Energiemärkte

Welche Energien nutzen wir heute? Eine Frage der Umwandlung

Wo kommt der Strom her? Kraftwerkspark in Bewegung

Immer schön im Takt! Stromtransport unter Dauerspannung

3 | Wie sieht eine zukunftsfähige Energieversorgung aus?

Montag, 19. September 2050: intelligent organisiert von A nach B

Smart Home, Smart Grid, Smart City: Unser Energiesystem wird intelligenter

Intelligenter wohnen und arbeiten – Smart Home: mit der Haustechnik auf Du und Du

Intelligenter unterwegs – Elektromobilität: Antriebsbatterien im Dialog mit dem Energiesystem

4 | Warum müssen wir unser Energiesystem nachhaltig ändern?

Mittwoch, 21. September 2050: „rasten und rosten“ unmöglich

Mehr Menschen brauchen mehr Energie – die Bevölkerungsuhr tickt weiter

Vom Umgang mit begrenzten Ressourcen – was machen die Rohstoffpreise?

Den Klimawandel bremsen – alle Mann an Bord!

5 | Wie erreichen wir eine zukunftsfähige Energieversorgung?

Donnerstag, 22. September 2050: keine Veränderung ohne Vertrauen

Ein Blick auf unsere Stromrechnung – Rechnungsposten heute

Neue Regeln für den Strommarkt

Bitte nicht vor meiner Haustür – Akzeptanz als Kostenfaktor der Energiewende

Hinterm Gartenzaun geht’s weiter – Europas Stromversorgung wächst zusammen

Wie sieht die Stromrechnung morgen aus? Rechnungsposten im Jahr 2050

6 | Wie schaffen wir die nötige Veränderungsbereitschaft?

Freitag, 23. September 2050: Wissen macht klug, Erfahrung macht klüger

Offen für neue Technologien? Chancen und Risiken sachlich abwägen

Keine Frage der Ehre – ohne Wissen und Anreize kein energiebewusstes Handeln

Keine Energiewende ohne Bildungswende – Energiebildung für alle

7 | Los geht’s!

Samstag, 24. September 2050: viele Gäste, viele Meinungen

Einfach Energie sparen – Checkliste für einen energie- und umweltbewussten Alltag

Literatur- und Quellenverzeichnis

Glossar – Energiewende im Kurzüberblick

Herausgeber und Autoren

Willkommen in der Zukunft

Ein Vorwort der Autoren und Herausgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie Zeit für ein wenig Zukunft? Dann laden wir Sie ein ins Jahr 2050, auf einen Besuch bei der norddeutschen Familie Janssen. Es sei gleich gesagt: Familie Janssen fliegt nicht mit ihrem Auto durch eine vertikal gewachsene Megastadt aus futuristischen Wolkenkratzern. In diesem Buch geht es nicht um Zukunftsvisionen à la Hollywood. Wir meinen, dass die kommenden Jahrzehnte auch ohne fliegende Autos oder böse Androiden äußerst spannende Herausforderungen bereithalten: Klimaveränderungen, das Wachstum der Weltbevölkerung, den demografischen Wandel und nicht zuletzt die Energiewende und damit den klima- und ressourcenschonenden Umbau der Energieversorgung.

Technische Fortschritte und neue wissenschaftliche Erkenntnisse werden – hoffentlich – dazu beitragen, diese Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Allerdings werden effiziente, intelligente, umweltschonende Techniken nur wirksam, wenn viele Menschen Zugang dazu haben und bereit sind, in diese Techniken zu investieren und ihr Energieverhalten zu verändern. Begleiten Sie unsere Modellfamilie Janssen durch den Spätsommer 2050, und erfahren Sie, wie der ganz normale Alltag nach der Energiewende aussehen könnte. Bis dahin wird dieses gesellschaftliche Großprojekt Sie, uns und die heranwachsende Generation voraussichtlich noch intensiv beschäftigen, denn grundlegende Veränderungen brauchen Zeit.

Was passiert bis Mitte des Jahrhunderts?

Um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie weit die unbekannte Zukunft des Jahres 2050 entfernt ist, werfen wir einen Blick zurück in die Vergangenheit. Die 1970er-Jahre sind zeitlich von unserem heutigen Alltag etwa ebenso weit entfernt wie das Jahr 2050. Damals fuhren junge, moderne Menschen gern Käfer oder Ente. Die Haare trugen sie vorzugsweise lang oder dauergewellt, die Hosenaufschläge weit, die Röcke lang und geblümt oder supermini. Man bangte um die Besatzung der Mondrakete Apollo 13 und erfuhr, dass der unschickliche Frauenfußball nach langem Verbot wieder offiziell erlaubt war. Farbfernseher in den Wohnzimmern waren ebenso rar wie Geschirrspüler in den Küchen. Die Röhrenfernseher boten drei Schwarz-Weiß-Programme und nach Sendeschluss das Testbild. Kinder liebten den Fernsehhund Lassie, Erwachsene folgten gespannt den ersten Folgen des Tatorts oder den Worten kettenrauchender Fernsehmoderatoren.

Otto Normalverbraucher telefonierte meist im Hausflur mit einem grauen Wählscheibentelefon. Außer Haus hieß es: „Fasse dich kurz!“ Diese Mahnung prangte in vielen Telefonzellen, denn bei zwei Groschen (20 Pfennigen oder rund 10 Cent) für ein unbegrenztes Ortsgespräch bildeten sich vor den gelben Häuschen schon mal Warteschlangen. Heute selbstverständliche und weit verbreitete Helfer wie Handys, Heimcomputer oder das Internet blieben noch für weitere Jahrzehnte Spezialisten vorbehalten oder Spock und Captain Kirk aus der damals anlaufenden Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise. Fast Food gab es höchstens in München, wo eine US-amerikanische Hamburger-Kette gerade ihre erste deutsche Filiale eröffnete. Deshalb griffen die meisten zum Butterbrot. Doch schon türmten sich die ersten Tiefkühlpizzen in den Supermarkttruhen …

Zeit für Helden

In der Gegenwart fragen wir uns nun, wie es zukünftig sein wird. Werden wir Alltagsaufgaben anders bewältigen als heute, vielleicht schneller und komfortabler? Welche technischen Neuerungen werden uns dabei unterstützen? Unsere Grundbedürfnisse werden sich nicht wesentlich verändern, unabhängig davon, wie bequem oder aufwendig es sein wird, sie zu erfüllen: Auch in Zukunft benötigen wir ausreichend Nahrung, Energie, sauberes Wasser und klare Luft zum Leben. Wir werden sicher weiter großen Wert legen auf angenehme Wohn- und Arbeitsbedingungen, auf Mobilität, Kommunikation, ein anregendes kulturelles und ein funktionierendes gesellschaftliches Umfeld. Diese Lebensbedingungen werden sich im Jahre 2050 rund neun Milliarden Menschen wünschen – zwei Milliarden mehr als heute.

Heutige Trends lassen erahnen, wie sich die technischen Möglichkeiten weiterentwickeln könnten. Alltagstechnik wird künftig wahrscheinlich noch kompakter, leistungsfähiger, vielseitiger sein. Schon in den kommenden Jahren werden Informations-, Kommunikations- und Energietechnologien stärker miteinander verschmelzen. Diese Kombination bietet die Chance, uns energiebewusster zu verhalten. Fortschritte in der Bio- und Nanotechnologie oder in der Entwicklung von künstlicher Intelligenz können neue Materialen, bessere Herstellungsverfahren, neue Produkteigenschaften und individuellere Anwendungen hervorbringen.

Die Zukunft ist offen. Nicht nur Forscher, Politiker und Großunternehmer gestalten sie mit, sondern jeder und jede von uns – Sie, wir und bis 2050 auch Ihre und unsere Kinder und Enkel. Auf den folgenden Seiten finden Sie Zukunftserzählungen zum Nachdenken und ausführliches Hintergrundwissen zum Mitreden. Ein weiteres Kapitel widmet sich der Frage, was zu tun wäre, um künftig mehr Energiebildung zu vermitteln und so gesellschaftlich eine energiebewusstere Lebensweise zu fördern.

Willkommen in einer funktionierenden, aber keineswegs selbstverständlichen Zukunft! Wir würden uns freuen, wenn Sie sich bei Keno, Frauke, Joost, Hanna, Jan und Martin Janssen wohlfühlen. Und wir hoffen, dass unser Bild von einer möglichen Zukunft nach einer erfolgreichen Energiewende Ihnen Lust macht, den Weg dorthin aktiv mitzugestalten.

Viel Freude bei der Lektüre wünschen Ihnen

Carsten Agert, Christoph Böhringer, Werner Brinker, Gert Brunekreeft, Jörg Buddenberg, Kirstin Hengelage, Jörg Hermsmeier, Sebastian Jurczyk, Hans Kaminski, Stephan Rammler und Ulrich Wagner

Vorwort Handelsblatt

Wenn ich meinem Urururururururururenkel etwas raten könnte – ich würde ihm sagen, dass er nach Grönland ziehen soll. Denn wenn sich die gängigen Klimamodelle bewahrheiten, wird es sich an kaum einem anderen Fleck auf der Welt so unbeschwert leben lassen.

In den vergangenen 100 Jahren hat sich die Weltbevölkerung vervierfacht. Wir haben erstaunliche Fortschritte in allen Lebensbereichen gemacht. Doch der gewonnene Wohlstand hat seinen Preis: Mit dem Wirtschaftswachstum wurde das ökologische Gleichgewicht derart durcheinandergebracht, dass es nur noch darum gehen kann, die Folgen des Klimawandels einzugrenzen – völlig abzuwenden sind sie ohnehin nicht mehr.

Next Energy ist ein Denkanstoß: Um dem Klimawandel wirksam etwas entgegenzusetzen, müssen gemeinsame Lösungen gefunden werden. Die Frage lautet: Ist der Zwang zum ewigen Wachstum wirklich alternativlos? Feststeht: Die Welt wird 2050 anders funktionieren. Sie werden Familie Janssen kennenlernen, die, wie viele andere auch, ökologisch denkt und handelt. Ihre Welt ist im Hinblick auf Energie und Verkehr besser als unsere heutige, und sie ist keine Utopie.

Dieses Buch macht Mut – ohne Idealismus vorauszusetzen. Die Lebenserwartung meines Urururururururururenkels wird um 23 Jahre höher sein als meine. Er lebt in einer Gesellschaft, die im Einklang mit der Umwelt ist. Die Frage ist nur, wie hart der Weg dorthin sein wird. Noch haben wir die Wahl. Dieses Buch hilft dabei, dass jeder Einzelne die richtigen Entscheidungen trifft.

Thorsten Giersch

Mitglied der Chefredaktion Handelsblatt Online

1. KAPITEL

Wie leben wir morgen?

Wir sind Familie Janssen – Personen und Orte der Zukunftserzählung

In den folgenden Kapiteln begleiten wir Familie Janssen durch den Spätsommer 2050. Vier Generationen betrachten die Situation im Jahre 2050 aus ihrer eigenen, durch ihre persönlichen Lebens- und Alltagserfahrungen geprägten Perspektive. Freunde und Bekannte runden mit ihren Ansichten das Bild vom Leben zur Jahrhundertmitte ab.

Das regionale und gesellschaftliche Umfeld

Die Zukunftserzählung ist im Nordwesten Deutschlands angesiedelt. Urbane Lebensräume wie die Großstadt Hamburg ziehen unverändert viele Menschen an. Hier lebt Keno mit seinen Eltern Frauke und Joost. In der ostfriesischen Region um die mittelgroße Stadt Leer, wo Kenos Großeltern und sein Urgroßvater zu Hause sind, geht es beschaulicher zu. Die Küstenregion Niedersachsens hat es geschafft, dem demografischen Wandel in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts etwas entgegenzusetzen: Mit ihrer langen Tradition in der Windenergienutzung hat die Region von der Energiewende profitiert und seit den 2010er-Jahren neue Industrien ansiedeln können. Die starke Windindustrie und die maritime Wirtschaft haben sich als Zugpferde für weitere Branchen erwiesen. Die reizvolle Landschaft bietet hohe Lebensqualität, und attraktive touristische Angebote ziehen Naherholungssuchende an.

Die Personen

Zentrale Figur ist Keno Janssen (geb. 2039), ein Hamburger Stadtkind, das mit den Vorzügen moderner Informationstechnik, intelligenter Gebäude und einer effizient organisierten Mobilität aufgewachsen ist. Vieles, was er von seinen Großeltern Hanna und Jan oder seinem Urgroßvater Martin über die Zeit um die Jahrtausendwende hört, erscheint ihm wahrlich vorsintflutlich, wie auf Papier gedruckte Schulbücher.

Kenos Vater Joost (geb. 2012) ist Ingenieur und Mediator. Sein Arbeitsschwerpunkt ist es, im Auftrag von Firmen und Institutionen die öffentliche Akzeptanz für neue Infrastruktur-, Energieerzeugungsoder Industrieprojekte zu fördern. Kenos Mutter Frauke (geb. 2013) vermittelt in Hamburg als Lehrkraft die Themen Wirtschaft, Energie und Nachhaltigkeit, kurz: „WEN“.

Kenos Großeltern Hanna (geb. 1986) und Jan Janssen (geb. 1985) zählen 2050 zur mittleren Generation einer deutlich älteren Bevölkerung. Sie haben die Höhen und Tiefen der Energiewende sehr bewusst miterlebt und konsequent in eine sparsame und langfristig kostengünstige Energieversorgung ihres alten Friesenhauses investiert. Hanna arbeitet unter anderem im Restaurant „Friesenstube“, Jan ist IT-Spezialist.

Kenos Urgroßvater Martin Janssen (geb. 1960) feiert 2050 seinen 90. Geburtstag. Er lebt im Wohncampus, einer Vorzeigeeinrichtung der Stadt Leer. Seine Berufserfahrungen als ehemaliger Mitarbeiter eines Energieversorgungsunternehmens spiegeln den Stand der Energieversorgung in Deutschland Mitte der 2010er-Jahre wieder.

Samstag, 20. August 2050: Friesenhaus auf Fitnesskur

06.00 Uhr. Aus den Lautsprechern des Nachttischs erklingt leise Mozarts kleine Nachtmusik. Die Melodie schleicht sich in Jan Janssens Träume, während das Schlafzimmer langsam in rötliches, dann in helleres Licht getaucht wird. Jan hat die Zimmerdecke mit einer hauchdünnen Schicht organischer Leuchtdioden überziehen lassen, die ihm pünktlich zur Weckzeit einen gefühlten Sonnenaufgang bescheren. Jan blinzelt kurz und dreht sich noch einmal um. Doch nicht nur die zunehmende Helligkeit stört seinen Schlummer, sondern auch das Streichorchester meint es ernst. Unerbittlich steigert sich die Lautstärke der Musik mit einer unüberhörbaren Botschaft: aufstehen! Jan gähnt und reibt sich die Augen. Die andere Hälfte des Doppelbettes ist verlassen, stellt er fest, Hanna ist bereits aufgestanden. Sie ist eine echte Frühaufsteherin – ganz im Gegensatz zu Jan. Er klatscht kurz in die Hände, die Streicher verstummen. Dann überlegt er es sich noch einmal anders, schnippt mit den Fingern und sagt: „Beatles“. Aus den Lautsprechern schallt ein aktueller Remix von „Good Day Sunshine“. Den Hit aus dem Jahr 1966 kennt Jan in- und auswendig, es ist ein Lieblingssong seines Vaters Martin Janssen – allerdings nur in der Ursprungsversion. Martin blieb sogar seinen Beatles- und Rolling-Stones-Schallplatten noch lange treu, als die Plattenspieler andernorts CD-Playern und USB-Sticks wichen. Für Jan sind die Hits als Kindheitserinnerungen fest verbunden mit seinem Elternhaus, das er vor Jahren übernommen und grundlegend modernisiert hat.

Während er ins Bad schlurft, sinniert Jan darüber, warum wohl gerade die Beatles bei Jugendlichen aktuell wieder so angesagt sind. Schließlich stammen die Hits aus dem vergangenen Jahrhundert, sind also schon fast klassische Musik … Aus dem Spiegel schaut ihm ein verschlafener Mann entgegen, gut 60, unrasiert, die Haare zerzaust. „Kriech doch noch mal unter die Decke, nur ein Viertelstündchen …“, scheint sein Spiegelbild ihm anzuraten. Jan hadert kurz mit sich, bis sein Blick auf das Display am rechten Spiegelrand fällt: „Schulwechsel Keno, Beginn: 10 Uhr“, leuchtet es dort kurz und knapp. Sein Enkelsohn Keno besucht ab heute die weiterführende Zweitschule. Im Geiste sieht er den elfjährigen Blondschopf vor sich. Sein Spiegelbild beginnt, breit zu lächeln, und sieht jetzt tatsächlich fast wach aus. Jan freut sich darüber, dass sein Sohn Joost und seine Schwiegertochter Frauke ihrem Kind ebenfalls einen alten ostfriesischen Namen gegeben haben. Regionaltypisches liegt 2050 voll im Trend – von traditionellen Namen bis zu regionalen Gerichten und Bräuchen. Jan findet diese anhaltende „Retrowelle“ einerseits gut, andererseits verwunderlich, da doch zumindest virtuell jedem die ganze Welt nahezu grenzenlos offensteht. Aber vielleicht ist eben das der tiefere Grund für die Rückbesinnung auf – im wahrsten Sinne des Wortes – Naheliegendes.

Spieglein, Spieglein an der Wand …

Wie werden wir wohnen und leben?

Jans Blick fällt auf die im Spiegel eingeblendeten Wetterdaten. Wie selbstverständlich stehen sie dort zur Verfügung, frisch eingespielt aus dem Internet, ebenso wie sein privater Terminkalender für heute. Aktiviert wird der Spiegel über den Bewegungsmelder, der beim Betreten des Badezimmers auch für Licht sorgt. Die Wettervorhersage meldet Sonnenschein, den ganzen Tag! Offensichtlich werden die Beatles recht behalten, konstatiert er zufrieden. Um sich wie gewohnt beim Rasieren die aktuelle Energieversorgung des Hauses anzeigen zu lassen, tippt Jan mit dem Finger auf das Spiegeldisplay. Es erscheint eine einfache Grafik aus zwei Kurven: Eine Kurve steigt sichtbar an – sie stellt den aktuellen Stromverbrauch des Hauses dar. Die zweite Kurve zeigt, wie viel Strom die Photovoltaikanlage aktuell produziert. Noch befindet sich diese zweite Kurve nahe dem Nullpunkt, doch voraussichtlich wird sie schon am frühen Vormittag die Verbrauchskurve kreuzen. Dann produziert das Haus mehr Strom, als Hanna und Jan gerade benötigen. Bevor Strommengen ins öffentliche Netz eingespeist werden, wird zunächst die Hausbatterie im Wirtschaftsraum aufgeladen. Deren Kapazität reicht aus, um einige Tage lang ohne Strom aus dem öffentlichen Netz auszukommen.

„1902“ ist in gusseisernen Ziffern an der Stirnseite des alten Friesenhauses zu lesen. Es ist Jans Elternhaus. Zusammen mit Hanna hatte er sich 2030 entschieden, das Wohnhaus am Rand der ostfriesischen Küstenstadt Leer von seinem Vater zu übernehmen. Martin Janssen lebte damals bereits seit zehn Jahren allein. Zwar liebte Martin den schönen, mit einer dichten Buchenhecke umgebenen Garten, den Anblick der alten Bäume, Blumen- und Gemüsebeete. „Aber im Grunde“, hatte er Jan in seiner praktisch-nüchternen Art erklärt, „ist das Ganze hier für mich allein eine Nummer zu groß.“ In der Nähe entstand zu der Zeit ein moderner Wohncampus. Das städtische Vorzeigeprojekt warb um zukünftige Bewohner mit dem Versprechen, flexibel auf deren individuelle Bedürfnisse einzugehen. Zusammen mit zwei langjährigen Freunden informierte sich Martin, nahm schon in der Bauphase an einem Rundgang über das Gelände teil und besichtigte eine der ersten, nahezu fertiggestellten Wohnungen. Kurz entschlossen machte er Nägel mit Köpfen und bewarb sich auf eine der komfortablen, lichtdurchfluteten und mit intelligenter Technik ausgestatteten Zweizimmerwohnungen mit Terrasse und Blick auf den Park. Martins Freunde Werner Oesten und Tom Frerichs erkannten ebenfalls, dass sie im Campus am Julianenpark bis ins hohe Alter weitgehend eigenständig würden leben können, und reservierten Wohnungen gleich nebenan. Sein Friesenhaus bot Martin Hanna und Jan an.

Aus alt mach neu und effizient!

Hanna und Jan war klar, dass sie das alte Gebäude modernisieren mussten. Sobald Martins Umzugstermin feststand, begannen sie mit der Planung. Schon Jans Vater hatte in den zurückliegenden Jahren einiges unternommen, um die immensen Heizkosten in den Griff zu kriegen. Anfang der 1990er-Jahre hatte er Dach und Innenwände des Hauses gedämmt und den veralteten Heizkessel durch einen sparsamen Erdgas-Brennwertkessel ersetzt. 20 Jahre später bot sich die Gelegenheit zu einem weiteren Techniksprung: Als Mitarbeiter eines regionalen Energieversorgungsunternehmens bekam Martin 2010 die Chance, an einem zweijährigen Test von Brennstoffzellenheizgeräten teilzunehmen. Die saubere und sparsame Strom- und Wärmeerzeugung überzeugte ihn restlos. Als die Testanlage wieder ausgebaut wurde, hätte er am liebsten sofort eine eigene gekauft, doch die Brennstoffzellentechnik für den Heizungskeller war noch nicht serienreif. Deshalb entschied er sich für einige weitere energiesparende Umbaumaßnahmen und nutzte den vorhandenen Heizkessel weiter. 2018 schloss er dann einen Strom- und Wärmeliefervertrag mit einem Energiedienstleister ab, der ein neues Brennstoffzellenheizgerät installierte und darüber hinaus die Finanzierung und die regelmäßige Wartung übernahm.

Zwölf Jahre später waren Jan und Hanna dran, das Haus zeitgemäß umzurüsten. Sie wollten den Bedarf an Strom und Heizenergie weiter senken und die gesamte Haustechnik intelligent und energieeffizient steuern können. Als Jan nach der Modernisierung endlich die gusseisernen Ziffern des Erbauungsjahres wieder an der Hauswand befestigte, war er versucht, statt „1902“ die aktuelle Jahreszahl „2031“ anzubringen.

Als Jan ihm vor Beginn der Bauarbeiten die Pläne zeigte, hatte Martin Janssen trocken angemerkt: „Pass bloß auf, dass das Haus nicht schlauer wird als du!“ Berufsbedingt interessiert sich Jans Vater für alles, was mit Energie zu tun hat. Doch die umfassende Informations- und Kommunikationstechnik moderner Wohnhäuser machte ihn zunächst skeptisch. Nach seinem Umzug in den Wohncampus wich seine Skepsis rasch, denn entgegen seiner Erwartung war das Bedienen kinderleicht. Schon bald schwärmte er von den Vorzügen seiner Wohnung, die sich in vielerlei Hinsicht auf seine persönlichen Bedürfnisse einstellte. Jan erinnert sich an den ersten Rundgang durch das neue Zuhause seines Vaters. Martin erläuterte die vielfältigen Funktionen, die sich mithilfe eines übersichtlichen zentralen Bedienfelds anpassen lassen. Er senkte die Zimmertemperatur, aktivierte die Fenstertönung, bis sich der Raum vollständig verdunkelte, wählte eine indirekte Beleuchtung mit einem warmen Lichtton und wies auf die zahlreichen Sensoren und Bewegungsmelder hin, die ihm im Alltag mehr Sicherheit boten. Bevor er das großzügige, barrierefreie Bad zeigte, führte er noch rasch die serienmäßige Aufstehhilfe der Sitzmöbel und die elektrisch höhenverstellbaren Tische und Arbeitsplatten vor. „Brauch’ ich zwar alles nicht, ist aber ganz nett“, war sein Standardkommentar während des Rundgangs. Doch er hatte längst eingesehen, dass diese Technik zu seinem sicheren, komfortablen und selbstbestimmten Alltag beitrug – bis ins hohe Alter. Bis dahin aber ist, wie der agile 90-Jährige 20 Jahre später immer noch gerne betont, noch jede Menge Zeit.

Intelligente Technik erobert den Alltag

Jan betritt die Duschkabine. Unverzüglich strömt angenehm warmes Wasser aus mehreren Duschköpfen, die seitlich und über ihm angebracht sind. Um endlich richtig wach zu werden, aktiviert er den Massagestrahl in Schulterhöhe und wählt ein belebendes Blau für die Lichtdusche. Jan genießt diesen „Wellness-Firlefanz“, wie Martin anfangs gespottet hatte. Inzwischen sieht sein Vater das längst anders, schließlich bietet sein eigenes Zuhause im Campus mindestens ebenso viele individuelle Anpassungsmöglichkeiten.

Jan tippt auf das Duschdisplay. Der Wasserstrom versiegt, aus den seitlichen Düsen strömt nun warme Luft. „Welche Generation hat wohl die größeren technischen Revolutionen miterlebt – meine Generation oder Martins?“, überlegt er, während der Luftstrom Haut und Haare trocknet. Sein Vater ist mit Telefonzellen und Festnetztelefonen aufgewachsen, Jan erinnert sich dagegen an PC-Spiele, sein erstes Smartphone und seine Bemühungen um ein möglichst cooles Profil in den ersten sozialen Netzwerken. Selbst ihm erscheint ein Alltag ohne umfassende automatische Kommunikation zwischen Geräten, Maschinen und Fahrzeugen absurd lange her.

Jan fällt ein, wie er beim Entrümpeln seines Elternhauses auf einen nahezu historischen Fund aus den 1980er-Jahren gestoßen war: einen der ersten erschwinglichen Heimcomputer, einen Commodore 64. Martins Generation hatte das Aufkommen dieser ersten Heimcomputer miterlebt, aber auch, wie in den kommenden Jahrzehnten immer leistungsfähigere und kompaktere Computer Büros und private Schreibtische eroberten. Jan bekam mit zwölf Jahren sein erstes, von seinem Vater ausrangiertes Handy, als Student leistete er sich ein Smartphone. Die Smartphones wurden zu immer leistungsfähigeren und vielseitigeren Multifunktionsgeräten weiterentwickelt und eroberten im Alltagsleben einen festen Platz. Sie wurden nicht nur komfortabler, sondern schließlich unerlässlich, als Bindeglied zur persönlichen Datenwolke und zu einer Vielzahl von Dienstleistungen. Orientieren, Navigieren, Reservieren und Bezahlen sind nur einige der Funktionen, die die handlichen Geräte im Alltag übernehmen.

Intelligente Technik dient dem Menschen, aber macht sie uns nicht gleichzeitig unselbstständiger und abhängiger?

Weil die Geräte zur persönlichen Grundausstattung gehören, werden sie als „Persönliche Assistenten“ angeboten. Es ist durchaus üblich, seinem elektronischen Begleiter einen eigenen Namen zu geben. Jan taufte seinen „Helferlein“, nach Daniel Düsentriebs kleinem Assistenten mit dem Glühbirnenköpfchen. Und wie Daniel Düsentrieb fühlt er sich manchmal hilflos, wenn er sein Helferlein verlegt hat. Zum Glück reagiert es auf seinen Rufnamen – so findet Jan das Gerät meistens rasch unter Sofakissen, auf Schrankregalen oder an anderen ungewöhnlichen Ablageorten wieder.

Was heißt hier inakzeptabel?

Martin hatte 1980 seine berufliche Laufbahn bei einem regionalen Energieversorgungsunternehmen begonnen. Strom wurde ausschließlich in Großkraftwerken produziert und vielerorts noch über Freileitungen bis zu den Haushalten transportiert. Serienreife Windenergie- oder Solaranlagen waren seinerzeit noch nicht in Sicht, aber Techniken zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wurden intensiv erforscht und erprobt. Martin erlebte in seinen ersten Berufsjahren, wie die Nieder- und Mittelspannungsnetze nach und nach aus dem Landschafts- und Städtebild verschwanden: Sie wurden unterirdisch verlegt, um besser vor Wettereinflüssen wie Sturm und Eis geschützt zu sein. Die Energieversorgung vor der Haustür geriet mit jedem demontierten Freileitungsmast buchstäblich weiter außer Sicht.

Martin sorgte in seinem Bezirk für den zuverlässigen Betrieb der Stromnetze. Ihm fiel auf, dass Strom rund um die Uhr für viele seiner Freunde, Nachbarn und Kunden offenbar völlig selbstverständlich war. Ihm dämmerte, dass die unterirdische Verlegung der Leitungen dieses Desinteresse förderte: „Kaum jemand sieht, dass der Strom nicht aus der Steckdose kommt, sondern dass Aufwand dahintersteckt, ihn in jedes Haus zu bringen“, stellte er fest. „Umso sicherer scheinen alle zu sein, dass sie zu viel bezahlen müssen für ihre zuverlässige Energieversorgung.“ Als Ende der 1990er-Jahre die Energiekosten deutlich zu steigen begannen, wurde zunehmend heftig über die Ursachen diskutiert. Mit der Energiewende erreichte die Diskussion eine neue Dimension, denn die Kosten des Umbaus der Energieversorgung stiegen viel rascher als erwartet. Der Umbau geriet auch durch Proteste und Initiativen ins Stocken: Vielerorts wehrten sich Anwohner und Interessengruppen gegen neue Hochspannungsleitungen oder den Bau von Großkraftwerken, Windenergie-, Wasserkraft- oder Biogasanlagen. „Das ist doch verrückt“, wetterte Martin, wenn er mit Jan darüber diskutierte. „So viele Bürger stimmen der Energiewende zu. Und trotzdem werden neue Erzeugungsanlagen und Leitungen nicht akzeptiert. Das versteh’ mal einer…“

Zu dem Zeitpunkt hatte Jan seine Ausbildung zum IT-Systemelektroniker und sein anschließendes Informatikstudium beendet und gerade im Berufsleben Fuß gefasst. Es fiel ihm nicht schwer, einen interessanten Arbeitsplatz zu finden: Gut ausgebildete Fachleute wie er wurden in der IT-Branche und in der Energiebranche händeringend gesucht. Jan arbeitete zunächst an einem Forschungsprojekt mit. Dabei wurde in einer Modellregion unter anderem untersucht, wie weit sich der Strombedarf von Unternehmen und Haushalten an das schwankende Windstromangebot anpassen ließ. Dazu wurden Windkraftanlagen, Haushalte, Kühlhäuser oder öffentliche Schwimmbäder miteinander vernetzt und bildeten so einen gemeinsamen Energiemarktplatz. Die Forscher untersuchten, inwieweit ein besserer Informationsaustausch zwischen den Teilnehmern dazu beitragen konnte, Stromüberschüsse sinnvoll zu nutzen und Stromengpässe durch zeitweises Absenken des Strombedarfs zu mindern. Untersucht wurde auch, ob und in welchem Umfang die Menschen überhaupt dazu bereit waren, ihr gewohntes Energieverhalten zugunsten dieser effizienteren Verteilung umzustellen.

Je weiter die Energiewende vorankam, desto drängender wurden diese Kernfragen. Im Jahr 2050 decken erneuerbare Energiequellen den Strombedarf in Deutschland nahezu vollständig. Das funktioniert, weil der Bedarf sich dem verfügbaren Stromangebot flexibler anpasst und weil bei Versorgungsengpässen übergangsweise auf Batterien und längerfristige Speicherformen zurückgegriffen werden kann.

Anders als Hanna und Jan wohnen deren Sohn Joost und seine Frau Frauke in einem Stadthochhaus. Zwar erzeugen moderne Hochhäuser auch Strom, die erzeugte Strommenge reicht aber höchstens für die Sicherheitstechnik, Beleuchtung und Klimatisierung der gemeinsam genutzten Flure und Räume. Dennoch kommen die Mieter meist mit niedrigen Stromflatrates aus, denn die moderne Gebäudetechnik des Hochhauses verhindert, dass unnötig Energie verbraucht wird, auch in den Wohnungen. Frauke und Joost zahlen nicht für die Anzahl ihrer verbrauchten Kilowattstunden, so wie es jahrzehntelang üblich war. Ihre Flatrate umfasst eine begrenzte Leistungsabgabe, deren Obergrenze sie einzuhalten versuchen. Dazu müssen sie teure Stromspitzen vermeiden, also darauf achten, dass sie nicht mit zu vielen Geräten gleichzeitig Strom verbrauchen. Brauchen sie eine höhere Leistung, wird für den Abrechnungszeitraum ausnahmsweise eine teurere Flatrate fällig. (Wie sieht die Stromrechnung morgen aus?, Kapitel 5)

Für Hanna und Jan ist es wenig sinnvoll, eine Stromflatrate zu buchen. Ihr Eigenheim ist mit eigenen Stromerzeugungsanlagen und Speicherkapazitäten ausgestattet und bezieht vergleichsweise selten Strom aus dem öffentlichen Netz. Zeitweise produziert es sogar mehr Strom, als ihr Haushalt verbrauchen oder speichern kann. Diese Überschüsse bieten sie dem Betreiber des Stromnetzes an, der damit kurzfristige Spannungsschwankungen ausgleicht. 2050 sind solche „Systemdienstleistungen“ so wertvoll wie der produzierte Strom selbst, denn sie tragen zur Stabilität des Versorgungssystems bei. Es ist für Hanna und Jan deshalb günstiger, ihren Verbrauch und ihr Energieangebot sekundengenau abrechnen zu lassen. (Smart Home, Smart Grid, Smart City, Kapitel 3)

Über Fragen der Energieversorgung wird 2050 aber längst nicht mehr so intensiv debattiert wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. Die Stromkosten gehen langsam, aber stetig zurück. Frauke und Joost sind zwar grundsätzlich eher kritische Konsumenten, aber an der Stromversorgung, die größtenteils erneuerbare Energien einsetzt, gibt es aus ihrer Sicht wenig zu kritisieren. Sie sind den Anblick von Erzeugungsanlagen oder Stromspeichern im Landschaftsbild gewohnt. Zudem werden vielerorts Strommengen sehr unauffällig erzeugt – mit lichtempfindlichen Beschichtungen an Häuserwänden, auf Gebäudedächern und Fahrzeugoberflächen oder mit lichtempfindlichen Textilien, aus denen zahlreiche Alltagsgegenstände gefertigt werden wie Jacken, Schirme und Taschen. Frauke und Joost machen sich wie viele andere ihrer Generation mehr Gedanken darüber, wie sie als kritische Konsumenten Einfluss auf die Gestaltung von Produkten und auf die Produktionsbedingungen nehmen können.

Schöne neue Datenwelt?

Jan schlüpft in ein helles Hemd und eine graue Anzughose. Schlagartig fällt ihm noch etwas ein, das sich seit seiner Jugend enorm verändert hat: die Mobilität. Seit 2030 setzten sich nahezu geräuschlose und abgasfreie Antriebe auf den Straßen durch. Diese Entwicklung ging von den Städten aus, weil die Belastung durch Lärm und Abgase hier am höchsten war. Die Verkehrsströme wurden neu organisiert, keineswegs nur in den Städten. Das Energieversorgungssystem und die zunehmend elektrisch angetriebene Mobilität begannen zusammenzuwachsen – eine Entwicklung, die sich auch in einer Veränderung der Unternehmenslandschaft widerspiegelte. 2050 sind aus ersten branchenübergreifenden Kooperationen zahlreiche neue Dienstleistungsunternehmen geworden, die Energie, IT, Kommunikation und Mobilität aus einer Hand anbieten.

Automatisierte Dienstleistungen verändern den Alltag. Wer sie nutzen will, muss seine persönlichen Daten preisgeben. Gelten diese Daten 2050 überhaupt noch als schützenswerte Privatsphäre?

„Für meinen Enkel Keno ist es selbstverständlich, dass fast alles heute irgendwie mitdenkt oder wenigstens Energie erzeugt – vom Multifunktionsfenster bis zur Solarschicht-Jacke“, geht Jan durch den Kopf. „Keno kann jederzeit seinen Persönlichen Assistenten fragen. Oder er setzt eine ‚Schlaue Brille‘ auf und lässt sich erklären, was er gerade sieht oder wissen möchte. Informationen sind immer und überall verfügbar. Wie käme man in dieser Flut nur ohne persönliche Filterprogramme zurecht? Die lernen schnell, nur das zu liefern, was man wirklich braucht.“ Als IT-Fachmann ist Jan weit davon entfernt, sich eine Rückkehr in eine datenärmere Welt zu wünschen. Andererseits beschäftigt er sich in seinem Arbeitsalltag oft mit Fragen der Datensicherheit. „Wenn man ehrlich ist, sind auch die Programme aus unserem Sortiment kriminellen Hackern immer nur ein kleines Stück voraus. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Datendieben und Datenschützern wird wohl niemals enden.“ Nachdenklich schaut Jan in den Spiegel. Dabei streift sein Blick die eingeblendete Uhrzeit – höchste Zeit für ein schnelles Frühstück. Er geht hinunter in die Küche und setzt sich zu Hanna an den Küchentresen.

Schatz, was machen die Strompreise?

Die Stromerzeugung basiert immer stärker auf erneuerbaren Energien, das Energiesystem muss angepasst werden. Dennoch werden wir uns im Alltag nicht ständig mit Energie beschäftigen müssen – oder doch?

Hanna schenkt sich bereits ihre zweite Tasse Tee ein. Sie schaut Nachrichten auf dem „Küchenfernseher“, einer dünnen, interaktiven Kunststoff-Folie, die sie in einen dekorativen Bilderrahmen eingelassen hat. Wie gewohnt lässt sie sich anschließend die aktuelle Wetterprognose anzeigen. Auf ihren kurzen Sprachbefehl hin zeigt der Bildschirm, dass in den kommenden beiden Tagen die Sonne scheinen wird. Dann beginnt der Wind auf Nordwest zu drehen, in seinem Schlepptau Regen und konstanter Wind, Stärke 5 bis 6. Mieses Wetter also. Aber Hanna und Jan Janssen können auch schlechtem Wetter etwas abgewinnen – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn vor einigen Jahren erwarben sie Bürgeranteile an einem neuen Windpark, der in der Nähe ihrer Stadt gebaut wurde. Der Windpark besteht aus zwölf Anlagen, die mit Turmkonstruktionen aus Holz und mit einer neuen Generation aus V-förmigen, Ahornfrüchten ähnelnden Rotoren ausgestattet wurden.

Für die Hausenergieversorgung der Janssens hat praktisch jeder Wetterumschwung Konsequenzen. Ihr Stromanschluss ans öffentliche Netz ist keine Einbahnstraße – zeitweise beziehen sie Strom daraus, zu anderen Zeiten speisen sie Strom ein. Jan und Hanna halten ihre Stromkosten niedrig, indem sie ihren Energieverbrauch möglichst passgenau an die jeweilige Situation im Stromnetz anpassen. Wenn, wie heute, die Sonne scheint und wenig Wind weht, produziert ihre Fotovoltaikanlage ausreichend Strom für ihren eigenen Bedarf. Die Hausbatterie wird ebenfalls daraus gespeist und liefert nach Sonnenuntergang Strom. Bei anhaltendem Regenwetter ist jedoch auch ihr Haus auf Strom aus dem Netz angewiesen. Wenn bei dichten Wolken ein konstanter Wind weht, beziehen sie günstigen Windstrom aus dem Netz. Er wird in Hunderten Windparks an Land und auf hoher See produziert. Über den niedrigeren Preis geben die Netzbetreiber Kostenvorteile an Abnehmer in der Nähe weiter – schließlich fallen beim sofortigen Verbrauch des Stroms in unmittelbarer Nähe kaum Transportkosten und keine Speicherkosten für die Netzbetreiber an. Deshalb legen Hanna und Jan einen großen Teil ihres Stromverbrauchs möglichst in solche „Überschusszeiten“. Steigt der Preis wieder an, greifen sie zunächst auf den Strom ihrer Hausbatterie zurück und warten ab, wie sich der Strompreis in den kommenden Tagen entwickelt.

Überschüssige Strommengen, für die sich absehbar keine nahen Abnehmer finden, werden über das gut ausgebaute Hochspannungsnetz in andere Regionen des Landes und in Nachbarländer abtransportiert. Als dieser weiträumige Ausgleich wegen fehlender Netze noch nicht möglich war, musste bei hervorragenden Wetterbedingungen ein Teil der Windenergie- oder Fotovoltaikanlagen abgeschaltet werden, um die Netze nicht zu überlasten. 2050 werden über dieses grenzüberschreitende Versorgungsnetz an wolkigen, windstillen Tagen Strommengen aus anderen europäischen Ländern importiert, um Engpässe im Inland auszugleichen.

Mobilität nach Bedarf

Ein dezentes Summen kündigt einen Anruf auf Hannas Persönlichem Assistenten an. Hanna findet, ein Gerät sollte keinen eigenen Namen tragen, ihres reagiert deshalb auf die nüchterne Ansprache „Assistent“. Auf dem Bilderrahmen-Bildschirm erscheint ihr Enkel Keno, verschlafen und leicht zerzaust, offenbar sitzt er ebenfalls noch beim Frühstück. „Hallo“, ruft er und winkt seinen Großeltern zu, „ihr seid ja noch zu Hause! Jetzt müsst ihr aber los, wenn ihr rechtzeitig zur Begrüßungsfeier hier sein wollt!“ Joost, der neben Keno sitzt, prostet Jan und Hanna mit seiner Tasse zu. „Nun hetz mal deine Großeltern nicht so“, sagt er mit einem Seitenblick auf seinen Sohn und ergänzt dann entschuldigend: „Keno kann es kaum erwarten! Aber wenn ich ihn mir so ansehe, will er offenbar seinen ersten Tag in der neuen Schule im Schlafanzug verbringen.“ Keno verdreht die Augen und schiebt sich, während er aufsteht, den Rest seines Frühstücksriegels in den Mund. „Eigentlich sollte er euch kurz fragen, ob ihr mit eurem Auto nach Hamburg fahren wollt. Ihr wisst ja: Parkplätze sind hier teuer, und die Zeiten, in denen Elektroautos überall umsonst parken durften, sind seit etwa 20 Jahren vorbei …“ Aus Joosts Sicht ist ein eigenes Auto etwas völlig Überflüssiges – zumindest in der mit Verkehrsmitteln hervorragend ausgestatteten Großstadt, in der er mit seiner Familie lebt. Hanna und Jan dagegen wollen sich von ihrem alten Schätzchen, einem Elektroauto Baujahr 2030, nicht trennen, selbst wenn es dank attraktiver Mobilitätsalternativen inzwischen seltener zum Einsatz kommt.

Das Hauptargument, das sie damals zum Kauf bewogen hatte, war, dass sie ihr Elektroauto in der eigenen Garage aufladen konnten und so endlich unabhängig waren von fossilen Kraftstoffen, die immer teurer wurden. Heute sind Hanna und Jan mit ihrem eigenen Fahrzeug eine Ausnahme. Viele ihrer Nachbarn teilen sich modernere und hochwertigere Fahrzeuge in Nutzergemeinschaften oder setzen vollständig auf andere Alternativen. Das planen auch Jan und Hanna, sollte ihr Wagen irgendwann den Geist aufgeben oder sollten die Straßennutzungsgebühren noch weiter steigen.

Dienstleistungen, Fernsteuerung und Automatik können uns das Leben leichter machen. Oder geben wir damit zu viel Kontrolle über unseren Alltag ab?

Hanna nimmt die spitze Bemerkung ihres Sohnes gelassen. „Keine Sorge, Joost“, antwortet sie, „unser Schätzchen bleibt in der Garage! Wir haben eine gute Verbindung ausgesucht, mit der wir direkt vor dem Schultor landen.“ Nachdem sie sich verabschiedet haben, fragt sie Jan nachdenklich: „Ob Joost meint, dass wir uns in der Stadt mit dem eigenen Auto nicht mehr zurechtfinden? Denkst du, er findet, dass wir alt werden?“ Jan schüttelt energisch den Kopf. „Nein, das denke ich erst, wenn er mich daran erinnert, auf keinen Fall mein ‚Helferlein‘ zu Hause zu vergessen! Er findet eben, dass ein Auto in der Stadt unnötiger Ballast ist – zumal ein so altes wie unseres.“

07.00 Uhr. Hanna trägt ein kleines Geschenk für Keno in der Hand, als sie das Haus verlassen und dessen Abwesenheitsmodus aktivieren: Fenster und Türen des Hauses schließen sich, die Alarmanlage schaltet scharf. Sollten während ihres Ausflugs ungewöhnliche Störungen auftreten, werden sie es sofort erfahren. Hanna hat für die Hin- und Rückfahrt eine passende Mobilitätskette aus Rufbus, Bahn und elektrischer Fahrkabine gebucht. Der kleine Elektrobus hält in der Haltebucht wenige Meter von ihrem Haus entfernt und bringt sie zum Bahnhof. Beim Einsteigen senden die Persönlichen Assistenten in Hannas und auch in Jans Tasche entsprechende Signale, so dass sie berührungslos alle Kontrollschranken passieren können. Wenig später besteigen sie ihren Zug. Jans Helferlein leitet sie zu dem Zweierabteil, das sie sich für die Fahrt ins Stadtzentrum gegönnt haben. Hier können sie bequem die Füße hochlegen, ein Nickerchen machen oder mithilfe des Persönlichen Assistenten die Abteilzwischenwand als Großbildschirm nutzen, um darauf Nachrichten, eine Lieblingsserie oder einen Film anzusehen.

Was müssen öffentliche Verkehrsmittel bieten, um künftig zum zentralen Element einer nachhaltigen Mobilität zu werden?

Früher hatte die Bahn als Reisealternative für Hanna nicht allzu hoch im Kurs gestanden. Es überwogen Erinnerungen an komplizierte oder defekte Ticketautomaten, abweisendes Bahnhofspersonal, an das Warten auf verspätete Züge, unzureichende Anschlussmöglichkeiten, muffige Abteile, enge Sitzplätze, laute Durchsagen … kurzum: Sie hatte, ebenso wie Jan, Bahn und Busse gemieden und stattdessen lieber ein Auto gekauft.

Eine Unterhaltung mit einer Arbeitskollegin in der „Friesenstube“ gab den Ausschlag, nach langer Zeit wieder einmal eine Bahnfahrt zu riskieren. Hannas Kollegin schwärmte von ihrer letzten Urlaubsreise mit der Bahn. Hanna konnte sich einen spöttischen Kommentar nicht verkneifen und erntete einen verständnislosen Blick. „Kann es sein, dass du lange nicht mehr per Mobilitätskette gereist bist?“, fragte ihre Kollegin schließlich nachsichtig. Wie peinlich … Hanna beschloss, ihre Meinung im Selbstversuch zu überprüfen. Die Kollegin hatte recht: Die kurzfristige elektronische Reservierung und die Bezahlung waren kinderleicht und klappten reibungslos. Hanna saß bei ihrer „Probefahrt“ in einem dieser neu gestalteten, gut ausgestatteten Abteile, die Luft war frisch, und es war angenehm leise. Alle aktuellen Fahrtinformationen wurden am oberen Fensterrand eingeblendet. Nach der pünktlichen Ankunft wurde Hanna über ihren Persönlichen Assistenten zum Fahrradstand geleitet, wo ihr reserviertes Elektrofahrrad bereitstand. Fazit: kein Stau, keine Wartezeiten und eine Auswahl verschiedener Transportmöglichkeiten bis zum Reiseziel. Noch am gleichen Abend überzeugte sie Jan, die nächste gemeinsame Fahrt mit der Bahn statt mit dem Pkw zu unternehmen.

Planmäßig gleitet Hanna und Jans Zug in den Vorstadtbahnhof Seevetal. Von hier aus sind es noch etwa vier Kilometer bis zu Kenos Schule. Bei der Reiseplanung hatte Hanna zunächst überlegt, das günstigste der vorgeschlagenen Verkehrsmittel zu wählen: zwei Mietfahrräder. Doch dann hatte sie kurz entschlossen eine teurere, aber bequeme Zweipersonenfahrkabine gewählt. Ihr Persönlicher Assistent leitet sie zur nahe gelegenen Station, die Türen einer geräumigen Kabine öffnen sich. Nachdem sie Platz genommen haben, setzt sich die Kabine unverzüglich in Bewegung, gleitet eine lange Rampe hinab, reiht sich in den fließenden Verkehr ein und beschleunigt sanft. Hanna schließt die Augen und lehnt sich zurück. „Jan, es wird Zeit, dass wir unserem alten Schätzchen ade sagen und endlich zeitgemäß fahren. Wie entspannend diese Lenkautomatik ist!“, schwärmt sie. Kurz darauf hält die Kabine in einer Ausbuchtung vor der Zweitschule Seevetal. Das Display meldet: „Sie haben Ihr Fahrziel erreicht. Vielen Dank für Ihre Reise mit Travelfast.net!“

Vernetztes Lernen

09.45 Uhr. Jan und Hanna steigen aus und halten Ausschau nach Joost, Frauke und Keno. Ein Blondschopf löst sich aus der Menschentraube vor dem Eingangsbereich und kommt ihnen entgegen. Keno bringt sie zu seinen Eltern und gemeinsam suchen sie freie Plätze in den Stuhlreihen, die vor einer kleinen Bühne auf dem Schulhof stehen. Nach einer kurzen feierlichen Begrüßung absolvieren die Schüler ihre erste Unterrichtsstunde in der neuen Schule. Keno greift nach seinem schmalen, robusten Rucksack. Darin befindet sich lediglich die „Schulmittel-Lern- und Schreibeinheit“ – ein handlicher Touchscreen, der sämtliche Bücher und Hefte ersetzt und von den Schülern kurz „Schumi“ genannt wird.

Können Technologien unsere Denk- und Lernweisen verändern?

Eltern und Verwandte sind eingeladen, die Schüler zu begleiten und sich die moderne Lernumgebung anzuschauen: große Räume, unterteilt durch transparente, schalldichte Wände. Diese Lernlandschaften ermöglichen das Lernen in kleinen, altersübergreifenden Gruppen.