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Gewidmet meiner Familie, Maggi, Michael und Ben

(und in Erinnerung an unseren Hund Rusty)

Steven Reiss

Das Reiss Profile

Die 16 Lebensmotive

Welche Werte und Bedürfnisse
unserem Verhalten zugrunde liegen

Aus dem Amerikanischen
von Matthias Reiss

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-000-3

Lektorat: Friederike Mannsperger

Die amerikanische Originalausgabe »The Normal Personality« erschien 2008 bei Cambridge University Press, New York, USA.

All rights reserved. No part of this work may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying and recording, or by any information storage or retrieval system.

©2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

www.gabal-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Überblick

1

Meine Frau meint, mit mir stimmt etwas nicht

2

Die 16 Grundbedürfnisse

3

Die Ausprägung der grundlegenden Motivation

4

Normale Persönlichkeitstypen

5

Bewältigung persönlicher Schwierigkeiten

6

Sechs Gründe für zu schlechte Leistungen bei Jugendlichen

7

Selbstbezogenheit und der persönliche blinde Fleck

8

Beziehungen

9

Neuinterpretation der Persönlichkeitstypen nach Myers-Briggs

10

Die 16 Motivationsprinzipien

Anhang A. Wörterbuch der normalen Persönlichkeitsmerkmale

Anhang B. Selbsteinschätzung nach dem Reiss Motivation Profile Estimator

Anhang C. Die 16 Grundbedürfnisse auf einen Blick

Dank

Literatur

»Unter dem Mittleren des Dinges verstehe ich das,

was von beiden Enden denselben Abstand hat

und für alle Menschen eines ist und dasselbe.

Mittleres dagegen in Hinsicht auf uns ist das,

was weder zu viel ist noch zu wenig:

Dies jedoch ist nicht eines und dasselbe für alle.«

ARISTOTELES, NIKOMACHISCHE ETHIK,

BUCH II, KAP. 5, S. 35

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Vorwort

Es gibt wohl kaum einen Wissenschaftler, der die individuelle Persönlichkeit ähnlich intensiv erforscht hat, wie der amerikanische Psychologe Professor Dr. Steven Reiss: Er hat die 16 Lebensmotive ermittelt und beschrieben, wie grundlegend diese die individuelle Persönlichkeit bestimmen. Die Erkenntnisse stellt er in diesem Fachbuch auf anschauliche Weise vor.

Dabei bietet er einen einzigartigen Ansatz, der die gängige Vorstellung von Normalität und krankhaftem Verhalten ablöst. Seine Grundbotschaft lautet: Verhaltensweisen, die wir bei anderen als »nicht normal« empfinden, sind zumeist Ausdruck einer »normalen« – in ihrer individuellen Motiv- und Wertestruktur stark ausgeprägten – Persönlichkeit. Reiss zeigt auch: Menschen bewerten Handlungen und Reaktionsweisen anderer immer vor dem Hintergrund der eigenen Motiv- und Wertestruktur. Begegnen sich Menschen mit stark unterschiedlich ausgeprägten Persönlichkeiten, kommt es früher oder später zu unreflektierten Bewertungen, Missverständnissen oder Konflikten. Vor diesem Hintergrund gleicht Reiss’ Ansatz einem Paradigmenwechsel, der nicht nur eine völlig neue Sicht auf die »normale Persönlichkeit« liefert, sondern auch eine hervorragende Basis für mehr Toleranz, Respekt und Selbstakzeptanz im Umgang miteinander schafft.

In dem vorliegenden Buch stellt Steven Reiss die Bedeutung seiner Forschungsergebnisse vor allem in den professionellen Kontext. Das Testverfahren Reiss Profile, das er mit seinem Team entwickelt hat und mit dessen Hilfe sich ein genaues Profil der individuellen Persönlichkeit darstellen lässt, hat sich weltweit als ein unverzichtbares Analyseinstrument etabliert – beispielsweise in der Potenzialanalyse, dem Führungstraining, der Teamentwicklung und dem Coaching. Es findet überall dort Anwendung, wo Menschen eine bessere Lebensqualität und Leistungsfähigkeit aus der Erkenntnis ihrer eigenen individuellen Persönlichkeit heraus anstreben – sei es im Unternehmen, im Leistungssport oder im privaten Bereich.

Als exklusive Lizenznehmer von Steven Reiss in Deutschland und in ausgewählten Ländern Europas sind wir leidenschaftliche Anwender und Vertreter des Reiss Profile. Die vielen Coaching- und Beratungsprozesse, die damit durchgeführt wurden, sowie die durchweg positiven Rückmeldungen von Kunden und der von uns ausgebildeten Reiss Profile Master bestätigen uns immer wieder aufs Neue seine Wirkweise und Effizienz.

Wir freuen uns, dass dieses lebendig geschriebene Werk nun auch in deutscher Sprache vorliegt, und empfehlen es allen, die ihren Horizont um eine neue Methode aus der Motivationspsychologie erweitern möchten. Denn durch den bewussten Umgang mit den Erkenntnissen des Reiss Profile Ansatzes gelingt es, sich selbst und andere besser zu verstehen und in ihrer Individualität wertzuschätzen. Die beste Voraussetzung für ein stabiles Werteglück.

Berlin, im September 2009

Peter Boltersdorf, John M. Delnoy, Thomas Staller

Reiss Profile Germany GmbH

www.reissprofile.eu

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Überblick

Wertvorstellungen, nicht eine unbewusste Psychodynamik, sind die Triebkraft für die Psyche des Menschen.

MOTTO DIESES BUCHS

Ich trete für eine neue Auffassung vom Menschen ein, die ich als Motivationsanalyse bezeichne. Psychodynamische Berater und Therapeuten fragen: »Was geschah, als diese Person ein Kleinkind war? Welche Gefühle für ihre eigenen Eltern hat sie tief in ihrem Innern?« Diese Theoretiker erklären die Persönlichkeitsmerkmale von Erwachsenen durch frühe Kindheitserlebnisse, durch Angst und Abwehr; sie sehen viele der gewöhnlichen Probleme im Leben als leichte Formen einer seelischen Krankheit. Im Gegensatz dazu fragen sich Motivationsanalytiker: »Was sind die Lebensziele und die intrinsischen Wertvorstellungen eines Individuums? Was versucht es durch dieses oder ein anderes Verhalten zu erreichen? Kommen die momentane Arbeitssituation und die Beziehungen seinen Wünschen und Wertvorstellungen entgegen oder nicht?« Motivationsanalytiker erklären die Persönlichkeit eines Erwachsenen als Gewohnheiten, durch die die Menschen lernen, ihre Lebensmotive, ihre psychischen Bedürfnisse und ihre intrinsischen Wertvorstellungen umzusetzen. Motivationsanalytiker erklären viele persönliche Schwierigkeiten als Ergebnis nicht erfüllter oder frustrierter Bedürfnisse; dazu gehört möglicherweise ein Wertekonflikt zwischen dem Individuum und seiner momentanen Berufskarriere, seinem sozialen Leben, seinen Beziehungen oder seinem Familienleben.

Die abnorme Persönlichkeit

Sigmund Freud (1963/1916) ging davon aus, dass es drei wichtige Ähnlichkeiten zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Symptomen seelischer Krankheiten gibt: (1) Beide gehen auf Kindheitserfahrungen zurück; (2) beide bringen unbewusste seelische Konflikte zum Ausdruck (dies bezeichnete er als Psychodynamik); (3) beide sind motiviert durch Angst oder den Abbau von Spannung. Aufgrund dieser angenommenen Ähnlichkeiten verwendeten die psychodynamischen Theoretiker eine psychiatrische Begrifflichkeit, um die Persönlichkeitsmerkmale gewöhnlicher Menschen zu beschreiben. Als ich z.B. am Dartmouth College und an der Yale University studierte, brachten mir landesweit bekannte Vertreter der psychodynamischen Theorie bei, dass Misstrauen eine leichte Form von Paranoia ist, Ordentlichkeit eine leichte Form der Zwangsstörung, Traurigkeit eine leichte Form der Depression, eine Scheidung das Resultat unbewusster Triebkräfte, ähnlich jenen, die eine Neurose verursachen, dass Magengeschwüre durch ein starkes Bedürfnis nach anderen Menschen (Abhängigkeit) hervorgerufen werden und dass Fettsucht ihre Ursache im unbewussten Wunsch nach Selbstzerstörung hat. Bis heute ist mir kein wissenschaftlicher Beleg für irgendeine dieser Lehren bekannt geworden (Doan-Sewell, Krueger & Shea, 2001; Kline, 1972).

Psychodynamische Theoretiker verstehen unter Persönlichkeit die von uns aktivierten Verhaltensweisen, die am ehesten Symptomen einer seelischen Krankheit ähneln. Um das Ausmaß einschätzen zu können, in dem Psychologen Persönlichkeitsmerkmale aus Theorien über seelische Krankheiten abgeleitet haben, sollten Sie die im Folgenden aufgeführten beiden Listen miteinander vergleichen. Auf der nächsten Seite finden Sie die zehn Persönlichkeitsmerkmale, wie sie vom Minnesota Multiphasic Personality Inventory erfasst werden (MMPI; Hathaway & McKinley, 1943). Beachten Sie bitte, in welchem Ausmaß sich die Persönlichkeitsmerkmale im MMPI wie eine Liste seelischer Krankheiten lesen. (Die Persönlichkeitsmerkmale in derselben Zeile entsprechen sich nicht.)

Original MMPI

Reiss Motivation Profile

Hypochondrie

mutig/vorsichtig

Depression

sicher/unsicher

Hysterie

auf sich selbst vertrauend/interdependent

Asoziale Psychopathie

redlich/berechnend

Maskuline und feminine Interessen

Sparer/Verschwender

Paranoia

förmlich/nicht förmlich

Psychasthenie

halsstarrig/nicht-direktiv

Schizoidie

organisiert/spontan

Hypomanie

sportlich/körperlich träge

Soziale Introversion

kontaktfreudig/introvertiert

Selbst ein kurzer Blick auf diese beiden Listen zeigt, wie sehr man sich bei der Erfassung der Persönlichkeit gewöhnlicher (normaler) Menschen auf Symptome für Abnormalität konzentriert hat. Obwohl der MMPI inzwischen überarbeitet wurde (Butcher etal., 1989), bleibt dieser Test weiterhin, wie in der ursprünglichen Fassung, auf die Erfassung klinischer Diagnosen und auf Konstrukte fokussiert.

Viele Psychologen sehen Persönlichkeit und seelische Krankheit immer noch als eng miteinander verwandte Konstrukte. Die amerikanische Society for Personality Assessment (SPA) beispielsweise ist eine landesweite Organisation von etwa 4000 Klinischen Psychologen und Sozialpsychologen. Die SPA beschäftigt sich vorwiegend mit der Erfassung klinischer Diagnosen, als hingen die Erfassung der Persönlichkeit und klinische Diagnosen so eng zusammen, wie es Freud behauptet hatte. Nach Claridge und Davis (2003, S. 1) ist es zum Beispiel »selbstverständlich«, dass »psychische Störungen eng mit der Persönlichkeit zusammenhängen«.

Psychopathologie des Alltagslebens

Freud (1963/1916) sah viele gewöhnliche persönliche Schwierigkeiten – wie etwa Scheidung, geringe Leistungsfähigkeit, Traurigkeit und Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Leben – als leichte Formen seelischer Krankheiten an. Er formulierte die Hypothese von der »Psychopathologie des Alltagslebens«. Diese Hypothese geht davon aus, dass es einen schmalen Grat zwischen Normalität und Abnormalität gibt; die psychodynamische Theorie begünstigt eine breite Definition von »Störung«. Im Folgenden finden Sie eine unvollständige Liste dessen, was der Psychiater Norman Cameron (1963), Autor eines einflussreichen Lehrbuchs der Psychiatrie, als »Ausdruck der Psychopathologie des Alltagslebens« ansah:

Ein Geschäftsmann, der einen Wutausbruch bekommt, als seine Urteilsfähigkeit infrage gestellt wird.

Ein Mann, der sich missverstanden fühlt und sich als Zielscheibe einer ungerechten Kritik empfindet.

Menschen, die nur für Lob und Anerkennung leben.

Eine ausdruckslose, verwirrte Frau, die sich zu sehr mit dem Sinn des Lebens beschäftigt.

Mystische Erlebnisse.

Eine reiche Person, die immer mehr Reichtum anhäufen möchte.

Cameron legt keine wissenschaftlichen Belege dafür vor, dass irgendeine der persönlichen Schwierigkeiten tatsächlich etwas mit einer seelischen Krankheit zu tun hat, wie etwa einer Schizophrenie, einer Panikstörung oder einer Zwangsstörung.

Als die Freudianer die Grenze zwischen dem, was normal ist, und dem, was abnormal ist, verschwimmen ließen, nahmen die Schätzungen über das Vorkommen psychopathologischer Befunde rapide zu. Bei der Lektüre meiner Tageszeitung erfuhr ich z.B. 2004, dass ein Sportberater 15 Prozent einer Sportlerstichprobe des amerikanischen Sportbunds NCAA als klinisch depressiv eingestuft hatte (The Plain Dealer, 2006). Ich untersuchte 150 Sportlerinnen und Sportler aus dem NCAA, von denen allem Anschein nach nur wenige klinisch depressiv waren. Die meisten von ihnen zeigten ein Verhalten, das nicht mit einer Depression in Einklang zu bringen war: Heiterkeit, Wachheit und Elan. Ich habe den Verdacht, dass der Sportberater »Traurigkeit« mit klinischer Depression verwechselte. Niemanden würde es überraschen, zu erfahren, dass 15 Prozent der Sportler im NCAA unglücklich sind. Aber die Diagnose zu stellen, dass sie seelisch krank sind, geht einfach zu weit.

Die Hypothese von der Psychopathologie des Alltagslebens hat weiterhin einen großen Einfluss. Auch in den heiligen Hallen der führenden psychologischen Institute der USA mag Freud tot sein, aber er spielt immer noch eine bedeutsame Rolle in der Eheberatung, in der persönlichen Beratung und in der Psychotherapie. Viele Berater versuchen heutzutage die persönlichen Schwierigkeiten und die Persönlichkeit ihrer Klienten zu verstehen, indem sie Konstrukte verwenden, die entwickelt wurden, um seelische Krankheiten wissenschaftlich zu untersuchen. Sie glauben daran, dass dunkle, unbewusste seelische Triebkräfte, die auf die Kindheit zurückgehen, Persönlichkeitsmerkmale, persönliche Schwierigkeiten und seelische Krankheiten verursachen.

Obwohl viele Experten auf dem Gebiet der Psychodynamik persönliche Schwierigkeiten1 als leichte Störungen ansehen, bin ich der Auffassung, dass Probleme ein normaler Bestandteil des Lebens sind. Ich werde Argumente dafür liefern, dass persönliche Schwierigkeiten etwas ganz Normales sind, indem ich zeige, dass die zugrunde liegenden Motive etwas ganz Normales sind. Ich werde zeigen, dass viele persönliche Schwierigkeiten durch nicht befriedigte psychologische Bedürfnisse und nicht durch die von Freud geprägten Konstrukte der Angst und Abwehr entstehen. Wenn wir zur Kenntnis nehmen, was normal ist, werden wir aufhören, alles, was im Leben schiefgeht, potenziell als psychiatrische Störung zu behandeln.

Die normale Persönlichkeit

Ich bin der Meinung, dass Wertvorstellungen und nicht eine unbewusste Psychodynamik der Schlüssel zum Verständnis persönlicher Schwierigkeiten bei normal veranlagten Menschen sind. Die Leute sollten aufhören, ihre Eltern oder die unbewussten Anteile ihrer Seele für ihre Schwierigkeiten verantwortlich zu machen; sie sollten aufhören, sich selbst als Opfer ihrer Erziehung zu verstehen. Stattdessen sollten sie sich klarmachen, wie sie durch ihre unerfüllten Wünsche, durch ihre nicht zum Ausdruck gekommenen Wertvorstellungen und durch ihre Wertekonflikte in Schwierigkeiten geraten. Wenn sich die Menschen ihrer selbst stärker bewusst sind, können sie Entscheidungen treffen, die erfüllender sind, die zu einem sinnvolleren Leben und im Laufe der Jahre zu weniger Problemen führen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich weiß durchaus, dass seelische Krankheiten vorkommen, und ich akzeptiere die Realität psychiatrischer Störungen wie die Schizophrenie und die Panikstörung. Ich bin jedoch nicht mit der psychodynamischen These einverstanden, dass derartige Störungen gemeinsame Ursachen in der Persönlichkeitsentwicklung und in persönlichen Schwierigkeiten haben. Ich lehne das Konstrukt der seelischen Krankheit nicht ab; ich unterscheide zwischen normal und abnormal. Ich denke, dass es normal ist, Probleme zu haben, aber abnormal, eine seelische Krankheit zu haben. Ich denke, dass es bei Persönlichkeit um Individualität geht, nicht um Abnormalität. Ich glaube, dass Freud den Begriff der Motivation missverstanden hat und daher auch das, worum es im Leben eigentlich geht.

Ich lehne die Hypothese der »Psychopathologie des Alltagslebens« ab. Freud war der Auffassung, dass Persönlichkeitsmerkmale durch Angstabbau motiviert sind; im Gegensatz dazu werde ich zeigen, dass Persönlichkeitsmerkmalen in Wirklichkeit eine Vielfalt intrinsischer Wertvorstellungen zugrunde liegen. Die psychodynamischen Theoretiker irren, wenn sie behaupten, dass etwa eine dominante Persönlichkeit durch Angstabbau entsteht. In Wirklichkeit entsteht das Persönlichkeitsmerkmal der Dominanz durch eine überdurchschnittlich starke Bewertung von Kompetenz, Leistung und Willenskraft/Einfluss. Die psychodynamischen Theoretiker irren, wenn sie behaupten, dass Esoteriker auf die orale Stufe der Entwicklung regredieren, um mit ihrer Angst umzugehen. In Wirklichkeit suchen Esoteriker die Interdependenz, weil sie dem Einssein intrinsisch mehr Wert beimessen, als dies beim Durchschnittsmenschen der Fall ist.

Eine ganze Reihe von Psychologen kritisierten in der Vergangenheit die psychodynamischen Persönlichkeitstheorien dafür, dass sie sich zu sehr auf die Abnormalität konzentrieren. Abraham Maslow (1954) legte in seiner humanistischen Psychologie großen Wert auf die Untersuchung seelischer Gesundheit. Heutzutage führt die positive Psychologie ein ähnliches Argument an (Snyder & Lopez, 2002). In der Vergangenheit verlangten die Theoretiker eine Psychologie der normalen Persönlichkeit. In diesem Buch ist es mein Ziel, weit über die Konstrukte »positiv« und »normal« hinauszugehen und eine detaillierte Beschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen zu erarbeiten, die keinen Zusammenhang mit seelischer Krankheit aufweisen.

Normale Persönlichkeitsmerkmale sind Gewohnheiten, die Menschen entwickeln, um ihre psychologischen Bedürfnisse zu befriedigen (hier als Grundbedürfnisse bezeichnet). Wissenschaftliche Untersuchungen an einer Vielzahl von Menschen (Reiss & Haverkamp, 1998) kamen zu dem Ergebnis, dass 16 Grundbedürfnisse die Triebkraft für die Seele des Menschen sind und möglicherweise eine breite Vielfalt menschlicher Erfahrungen erklären; das kann alles sein, von Beziehungen über Wertvorstellungen bis zur Kultur. Alle Menschen haben alle 16 Grundbedürfnisse, aber jeder Einzelne misst ihnen eine unterschiedliche Priorität zu (Reiss, 2000a). Welchen Wert ein Individuum jedem der 16 Grundbedürfnisse zuordnet – man bezeichnet es als Reiss Motivation Profile (RMP) –, verrät etwas über seine Wertvorstellungen und seine Persönlichkeitsmerkmale. Wenn ich weiß, welchen Wert ein Mensch den 16 Grundbedürfnissen beimisst und wie er sie zu einem Ganzen vereint, kann ich mit statistisch bedeutsamer Validität die Persönlichkeitsmerkmale, die Wertvorstellungen, die Beziehungen und das Verhalten in Situationen des realen Lebens vorhersagen. Das Reiss Motivation Profile liefert eine detaillierte Beschreibung der menschlichen Motivation; es zeigt detailliert die Zusammenhänge zwischen Motiven, Wertvorstellungen und vielen normalen Persönlichkeitsmerkmalen auf.

Die Motivationsanalyse beruht auf evaluierten, wissenschaftlich validen Untersuchungen zu der Frage, was Menschen motiviert (Reiss & Havercamp, 1998). Mehr als 25 000 Personen in Nordamerika und in Europa haben die Fragen zum Reiss Motivation Profile beantwortet. Den meisten ist es nicht klar, aber nie zuvor hat ein Wissenschaftler die Frage, was in den Menschen vorgeht, dadurch beantwortet, dass er eine so große Anzahl von Personen befragt hat. In der Vergangenheit machten Wissenschaftler aufgrund philosophischer oder psychologischer Spekulationen oder aufgrund von Beobachtungen an Tieren universelle Motive aus. In Gegensatz dazu befragte ich eine große Anzahl durchschnittlicher Menschen. Die Ergebnisse unserer Studien zeigten, dass es 16 Grundbedürfnisse im Leben gibt. Die 16 Grundbedürfnisse wurden kulturübergreifend in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Deutschland und Japan validiert (Havercamp & Reiss, 2003; Reiss, 2000a; Reiss & Havercamp, 1998). Menschen überall auf der Welt scheinen unabhängig von ihrer Kultur durch dieselben 16 Grundbedürfnisse motiviert zu sein, obwohl sie dabei möglicherweise unterschiedliche Prioritäten haben und sie auf unterschiedliche Weise befriedigen. In einer Reihe von Publikationen, deren Qualität durch Gutachter überprüft wurden, wurden die 16 Grundbedürfnisse validiert, und es wurde nachgewiesen, dass sich mit ihrer Hilfe wichtige Verhaltensweisen vorhersagen lassen (siehe Tabelle 2.1 zu einer Zusammenfassung der Ergebnisse und zu Literaturhinweisen). Ich nehme an, es könnte an den von uns verwendeten empirischen Methoden liegen, dass unsere Taxonomie der 16 Grundbedürfnisse anscheinend deutlich valider ist als die früheren Taxonomien.

Die Motivationsanalyse gehört nicht zum Mainstream der gegenwärtigen Psychologie. Psychologen haben sich wissenschaftlich mit den unbewussten Anteilen der Seele, mit dem Verhalten und den Kognitionen beschäftigt, aber nicht mit der Motivation. Meiner Ansicht nach ist es den großen Psychologen der Vergangenheit nicht gelungen, tragfähige Erklärungen für Motivation zu liefern. Freud war der Auffassung, dass sich die gesamte Motivation des Menschen auf Sexualität und Aggression reduzieren lässt, was nicht stimmt. Freud erklärte eigentlich Persönlichkeitsmerkmale als etwas, was durch Angstabbau motiviert ist; das stimmt ebenfalls nicht. Da die Behavioristen die von ihnen eingesetzten Tiere vor den Experimenten hungern ließen, konnten sie die Bedeutsamkeit psychischer Bedürfnisse nie beobachten. Ein Mensch könnte z.B. extrem ehrgeizig sein; doch das würden wir nie herausbekommen, wenn er unter Hunger litte und seine ganze Energie darauf verwenden müsste, Nahrung zu finden. Die kognitiven Psychologen untersuchten Denkprozesse so, als wäre Denken unmotiviert und träte einfach deswegen auf, weil wir rational sind. Ich sehe Motivation als den letzten Grenzbereich, den die Psychologie wissenschaftlich untersuchen kann.

Bei ihrer Untersuchung von Motivation konzentrierten sich Psychologen auf situationsbedingte Motive, die meist nur einen kurzfristigen Einfluss haben. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Motivationsanalyse auf die Untersuchung andauernder individueller Unterschiede in Bezug auf die Lebensmotive (auch als Grundbedürfnisse bezeichnet). Hier handelt es sich um Motive, die nur zeitweilig befriedigt sind und die daher unser Leben von der Jugend bis ins Erwachsenenalter beeinflussen. Ich werde argumentieren, dass Lebensmotive intrinsische Wertvorstellungen zum Ausdruck bringen und die persönliche Entwicklung vorantreiben. Ich werde zeigen, dass normale Persönlichkeitsmerkmale auf Kontinuen unterschiedlicher Intensitäten von Lebensmotiven angeordnet werden können. Ich werde erklären, wie es in ganz normalen Lebenssituationen (etwa im Alltag, im Beruf oder in Beziehungen), in denen unsere Lebensmotive nicht befriedigt werden und die unseren intrinsischen Wertvorstellungen widersprechen, zu persönlichen Schwierigkeiten kommt. Viele persönliche Schwierigkeiten lassen sich durch Strategien im Leben verhindern; dies kann dadurch geschehen, dass sich Menschen Situationen auswählen, in denen sie aufblühen können, und dass sie diejenigen Situationen meiden, bei denen ihren individuellen Wertvorstellungen und Bedürfnissen nicht entsprochen wird. Zur Abgrenzung sollte noch Folgendes angemerkt werden: Seelische Krankheiten wie etwa eine Schizophrenie und eine klinische Depression entstehen durch genetische Faktoren oder durch Erziehungsfaktoren. Die Möglichkeiten, wie man seelische Krankheiten verhindern kann, werden in diesem Buch nicht erörtert.

Kapitelvorschau

Kapitel 1. Meine Frau meint, mit mir stimmt etwas nicht

Dieses Kapitel stellt ein leicht zu lesendes Einführungsbeispiel für die Unterschiede zwischen Motivationsanalyse und Psychodynamik dar. Was macht einen Menschen ordentlich oder desorganisiert? Wie ordentlich wir sind, hängt nach der psychodynamischen Theorie davon ab, wie sehr wir Autorität annehmen bzw. wie sehr wir mit Ärger dagegen rebellieren (z.B. Fenichel, 1945; White & Watt, 1973). Wie ordentlich wir sind, hängt nach der Motivationsanalyse davon ab, welchen Wert wir auf Struktur legen. Ich werde darlegen, dass das Ausmaß, in dem wir Struktur zu schätzen wissen, ordentliches oder desorganisiertes Verhalten im Detail deutlich besser erklären kann, als dies der Psychodynamik gelingt.

Kapitel 2. Die 16 Grundbedürfnisse

Das Kapitel fasst die wissenschaftlichen Belege aus der Forschung zur Motivationsanalyse zusammen. 16 Grundbedürfnisse sind die Triebkräfte für die Seele des Menschen; sie sind Motive für das normale Verhalten und die Persönlichkeitsmerkmale. Ich stelle diese Bedürfnisse heraus und vergleiche meine Taxonomie mit denen, die zuvor von William James, William McDougall und Henry Murray aufgestellt wurden. Die Reliabilität und die Validität werden für jedes Einzelne der 16 Grundbedürfnisse zusammengefasst. Alle Motive des Menschen lassen sich auf eine Kombination aus diesen 16 Grundbedürfnissen reduzieren, wenn man einmal von bestimmten biologischen Prozessen wie der Homöostase absieht, die keine Relevanz für die Persönlichkeit hat.

Kapitel 3. Die Ausprägung der grundlegenden Motivation

Dieses Kapitel beschreibt die normale Persönlichkeit und berücksichtigt dabei starke und schwache Ausprägungen jedes Einzelnen der 16 Grundbedürfnisse. Alle Menschen haben 16 Grundbedürfnisse, aber in unterschiedlichem Ausmaß. Welche Prioritäten eine Person innerhalb der 16 Grundbedürfnisse setzt, bringt ihre Wertvorstellungen und ihre Persönlichkeit zum Vorschein. Persönlichkeitsmerkmale hängen mit starken und schwachen Ausprägungen der Grundbedürfnisse zusammen. Grundbedürfnisse durchschnittlicher Intensität rufen keine Persönlichkeitsmerkmale hervor. Beispielsweise führt Ehre bei starker Ausprägung zum Persönlichkeitsmerkmal der Selbstgerechtigkeit, wohingegen Ehre bei schwacher Ausprägung zum Persönlichkeitsmerkmal der Eigennützigkeit führt. Selbstgerechtigkeit und Eigennützigkeit sind »einander entgegengesetzte« Persönlichkeitsmerkmale, denn sie stehen für die Verfolgung/Vermeidung desselben Ziels (Ehre).

Kapitel 4. Normale Persönlichkeitstypen

In diesem Kapitel vergleiche ich die motivationale mit der psychodynamischen Erklärung in Bezug auf die sieben Persönlichkeitstypen: Workaholic, Konkurrent, Menschenfreund, Denker, Erotiker, Einzelgänger, Asket. Ich zeige auf, wie man diese Persönlichkeitstypen als Ergebnisse normaler Variationen begreifen kann, und zwar im Hinblick darauf, welche Prioritäten die Menschen den 16 Grundbedürfnissen beimessen. Sie werden durch Bedingungen motiviert, die unabhängig sind vom psychodynamischen Angstabbau und von unbewussten seelischen Triebkräften.

Kapitel 5. Bewältigung persönlicher Schwierigkeiten

Die Leser werden erfahren, wie die Motivationsanalyse in der beruflichen Weiterbildung und bei der Beratung dazu verwendet wird, den Betreffenden zu helfen, eine breite Vielfalt persönlicher Probleme zu lösen. Viele persönliche Probleme sind das Ergebnis von Wertekonflikten, etwa wenn eine Angestellte Wertvorstellungen hat, die im Widerspruch zu ihrer Arbeit, der Firmenkultur oder den Wertvorstellungen des Vorgesetzten stehen. Gute Beispiele für Wertekonflikte am Arbeitsplatz sind eine leistungsbereite Person, die in einer staatlichen Behörde mit einer sehr lockeren Arbeitsauffassung tätig ist, eine Person mit einem ausgeprägten Wettbewerbsgeist, die in einer Schule arbeitet, in der Wettbewerb negativ gesehen wird, und eine kreative Person, die an einer Arbeitsstelle tätig ist, in der man erwartet, dass die Dinge jedes Mal auf dieselbe Art und Weise erledigt werden. Bei jedem dieser Beispiele besteht ein Konflikt zwischen Wertvorstellungen, und es liegt keine leichte seelische Krankheit vor, wie es traditionelle Psychologen behauptet haben.

Kapitel 6. Sechs Gründe für zu schlechte Leistungen bei Jugendlichen

Hier geht es um sechs verbreitete motivationale Ursachen schlechter Schulleistungen. Es handelt sich um einen Mangel an Neugier, einen Mangel an Ehrgeiz, Furcht vor Misserfolg, das Provozieren von Ärgerreaktionen, Berechnung und Spontaneität. Auf der Grundlage standardisierter Testwerte unterzieht das Reiss School Motivation Profile (RSMP) jeden dieser Gründe einer Bewertung.

Kapitel 7. Selbstbezogenheit und der persönliche blinde Fleck

Ich werde hier das Thema Selbstbezogenheit behandeln. Dabei handelt es sich um eine natürliche Tendenz, zu meinen, dass die eigenen Wertvorstellungen die besten sind (am meisten zu Glück beitragen), nicht nur bei uns selbst, sondern potenziell bei jedem. Selbstbezogenheit bringt uns dazu, Individualität mit Abnormalität zu verwechseln. Wenn Menschen sich für Werte entscheiden, die unseren diametral entgegengesetzt sind, meinen wir, etwas stimme mit ihnen nicht. Gesellige Menschen glauben z.B., dass mit Einzelgängern etwas nicht stimme. Vielleicht vermeiden diese soziale Kontakte, weil es ihnen an sozialen Kompetenzen fehlt oder sie Angst haben, dass man sie nicht mag. Die meisten geselligen Menschen können nicht wertschätzen, dass viele Einzelgänger vielleicht keine sozialen Kompetenzen haben, weil sie allein bleiben wollen (sie intrinsisch Einsamkeit hoch bewerten) und derartige Kompetenzen gar nicht brauchen.

Kapitel 8. Beziehungen

Die Leser werden erfahren, wie die Motivationsanalyse Beziehungen erklärt. Wir sind eine Spezies, die sich veranlasst sieht, Wertvorstellungen immer wieder zur Geltung zu bringen. Die Individualität ist so ausgeprägt, dass andere (einschließlich der Eltern, Kinder, Geschwister und des Ehepartners) vielleicht Wertvorstellungen geltend machen, die sich von unseren unterscheiden oder ihnen gar entgegengesetzt sind. Wir sind eine intolerante Spezies. Wir grenzen uns natürlicherweise von Menschen ab, deren Wertvorstellungen sich in bedeutsamer Weise von unseren eigenen unterscheiden. Wir neigen dazu, uns immer wieder mit Eltern oder Kindern zu streiten, die andere Wertvorstellungen haben. Und wir neigen dazu, uns von Partnern zu trennen, deren Wertvorstellungen sich deutlich von unseren eigenen unterscheiden. Wir gehen Bindungen zu Menschen ein, deren Wertvorstellungen unseren eigenen ähneln, und wir führen ein erfolgreiches Leben, wenn die berufliche Karriere und die Beziehungen Ausdruck unserer Wertvorstellungen sind.

Das Reiss Relationship Profile (RRP) ist ein Testinstrument, das die Vereinbarkeiten und Unvereinbarkeiten in Liebesbeziehungen einer Bewertung unterzieht. Das RRP gibt an, welche Grundbedürfnisse und Wertvorstellungen zueinander passen und welche nicht. In diesem Kapitel weise ich nach, wie sich die Zufriedenheit in einer Beziehung aus Grundbedürfnissen entwickelt, die miteinander vereinbar sind, und wie Konflikte aus entgegengesetzten Grundbedürfnissen entstehen.

Kapitel 9. Neuinterpretation der Persönlichkeitstypen nach Myers-Briggs

Die 16 Grundbedürfnisse bieten eine Grundlage dafür, die Ergebnisse des Myers-Briggs Typenindikators (MBTI) neu zu interpretieren und zu erweitern. Obwohl der Myers-Briggs Typenindikator ursprünglich dazu gedacht war, die individuellen Vorlieben beim Sammeln und bei der Verarbeitung von Informationen sowie beim Fällen von Entscheidungen zu erfassen, ist er in Wirklichkeit ein Testinstrument für eine begrenzte Anzahl psychologischer Anforderungen und Grundbedürfnisse. Das Reiss Motivation Profile erfasst all jene Persönlichkeitsmerkmale, die vom MBTI erhoben werden, ohne dabei auf Jungs Theorie zurückzugreifen.

Kapitel 10. Die 16 Motivationsprinzipien

Ich fasse hier die Theorie der Motivationsanalyse im Sinne von 16 Prinzipien zusammen. Jedes Prinzip wird vorgestellt und kurz erörtert. Die 16 Prinzipien liefern einen Beitrag zur begrifflichen Fundierung der Motivationsanalyse.

Anhang A. Wörterbuch der normalen Persönlichkeitsmerkmale

Dieses Wörterbuch stellt im theoretischen Sinne die spezifische motivationale Grundlage der Persönlichkeitsmerkmale in einer Auflistung von Begriffen dar. Obwohl solche detaillierten Klassifikationen in Biologie, Chemie und Physik gebräuchlich sind, handelt es sich hier um den ersten Versuch in der Psychologie, jedes einzelne Persönlichkeitsmerkmal in einer Weise zu klassifizieren, dass es vollständig empirisch überprüfbar ist.

Anhang B. Selbsteinschätzung nach dem Reiss Motivation Profile Estimator

Mit dem Fragebogen kann man die Ergebnisse abschätzen, die der Leser erhalten würde, wenn er sich dem standardisierten Reiss Motivation Profile unterziehen würde. Der Fragebogen zeigt, welche der 16 Grundbedürfnisse der Leser hoch bewertet und welche gering.

Anhang C. Die 16 Grundbedürfnisse auf einen Blick

Diese kurz gefasste Übersicht ist für die Verwendung in Seminaren und Kursen gedacht.

1Im Folgenden finden Sie eine Teilliste für das, was ich unter »persönlichen Schwierigkeiten« verstehe: brüsk, arrogant, um Aufmerksamkeit buhlend, herrisch, berufliches Burn-out, streitlustig, abhängig (braucht Menschen um sich), unehrlich, illoyal, desorganisiert, Scheidung, elitär, mag die Schule überhaupt nicht, unsicher, Mangel an Selbstvertrauen, faul, Einzelgänger, Ehekonflikt, launisch, nie zu Hause, nicht durchsetzungsfähig, zu selbstsicher, isst zu viel, überempfindlich, gibt zu viel Geld aus, Perfektionist, rebellisch, riskantes Verhalten, ungeschickt in Gesellschaft, Angeber, eigensinnig, Langweiler, stimmungsabhängig, furchtsam, Eheschwierigkeiten, zu schlechte Leistungen, nicht fit, unglücklich, unbeliebt, Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Leben (Workaholic) und jemand, der sich ständig Sorgen macht. Ausgeschlossen von meiner Liste der »persönlichen Schwierigkeiten« habe ich die allgemein bekannten psychischen Störungen der »Achse I« wie Schizophrenie, Panikstörung und Major Depression (American Psychiatric Association, 1994).

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KAPITEL 1

Meine Frau meint, mit mir stimmt etwas nicht

Wir wollen nun psychodynamische und motivationale Erklärungen für die Persönlichkeitsmerkmale wohlorganisierter und desorganisierter Menschen vergleichen. Nach der psychodynamischen Theorie werden diese Persönlichkeitsmerkmale durch unbewusste seelische Triebkräfte bestimmt, die während der frühen Kindheit in Gang gesetzt werden. Nach der Motivationsanalyse werden Persönlichkeitsmerkmale durch intrinsische Wertvorstellungen und Lebensmotive bestimmt. Diese werden im Folgenden abwechselnd als Grundbedürfnisse oder psychologische Bedürfnisse bezeichnet.

Ein desorganisierter Mensch

Selbst wenn man beim Beobachten von Menschen ziemlich unbedarft ist, bemerkt man sofort, dass ich desorganisiert bin. Mein Büro ist ein einziges Durcheinander: Meine Ordner liegen auf dem Boden und die Zettel fallen aus ihnen heraus, mein Papierkorb ist voller Papiermüll. Meinen Mantel habe ich über einen Sessel geworfen, und meinen Hut habe ich irgendwo abgelegt, wo sogar ich selbst ihn nicht wiederfinden kann. Jeden Winter brauche ich einen halbes Dutzend Handschuhe, weil ich sie immer wieder verliere.

Meine Frau Maggi macht mein Büro immer dann sauber, wenn ich aus geschäftlichen Gründen verreise. Statt nach Hause zu kommen und auszurufen: »Was bist du für eine wunderbare Ehefrau – du hast mein Büro aufgeräumt und alles sauber gemacht«, beklage ich mich: »Ich kann meinen Artikel über Angst nicht finden! Was hast du damit gemacht? Richte doch bitte mein Büro so, wie es war, als ich weggegangen bin.«

Ich kann es überhaupt nicht leiden, mich an einen Zeitplan halten zu müssen, und neige dazu, auf die letzte Minute zu beruflichen Verabredungen zu kommen. Ich war mindestens 30 Jahre alt, als ich mir meinen ersten Terminkalender kaufte. Trotz dieses wichtigen Zugeständnisses an die Wertvorstellungen von Ordnung und Strukturiertheit eile ich weiterhin in der letzten Minute zu Verabredungen – wie früher, als ich noch keinen Terminkalender hatte. Obwohl heute ein Teil meines Tagesablaufs in meinem Terminkalender vermerkt wird, vergesse ich oft, in den Kalender zu schauen.

Meine Frau und meine Mitarbeiter haben es gelernt, mich eine Stunde vor wichtigen Terminen an diese zu erinnern. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie jetzt angesichts meiner desorganisierten Lebensweise sagen, ich sei von Leuten umgeben, die das erst ermöglichen. Der Grund, warum man mich an Termine erinnert, ist folgender: Das vorher verwendete Verfahren – morgens Notizzettel zu hinterlassen – erfüllte seinen Zweck nicht mehr. Ich las die Zettel, vergaß sie aber schnell wieder, wenn ich mich mit etwas anderem beschäftigte.

Wie andere desorganisierte Menschen auch hasse ich Pläne. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Leute lernen sollten, spontan auf das zu reagieren, was ihnen beschert wird, statt sich auf einen vorgeplanten Handlungsverlauf festzulegen. Bevor ich mich wissenschaftlich mit Motivation auseinandersetzte, hatte ich angenommen, dass Planer eben so sind, wie sie sind, weil sie nicht die Begabung haben, wirkungsvoll auf die Eingebung des Augenblicks zu reagieren. Wären die Planer nur spontaner und kreativer, dachte ich, wären sie wie ich und würden keine Pläne schmieden.

Ich verabscheue Planung so sehr, dass ich als Universitätsprofessor nur wenige Anträge für Forschungsprojekte verfasst habe. Es schien mir meine Kreativität zunichtezumachen, wenn ich meine Forschung plante. Was würde geschehen, wenn ich auf eine wichtige neue Idee käme, nachdem das Forschungsprojekt genehmigt war? Ich würde mich auf den Plan, wie er im Projektantrag beschrieben wurde, festlegen und wäre nicht in der Lage, in eine Richtung zu gehen, in die mich meine neuen Ideen führen würden.

Besonders wenig kann ich damit anfangen, Freizeitaktivitäten zu planen. Über unseren Familienurlaub wird in der letzten Minute entschieden, obwohl Reise- und Hotelkosten preiswerter sind, wenn man die Reservierungen vorher macht. Ich erinnere mich daran, wie meine Familie und ich die Sachen im Wagen verstaut hatten und wir gerade auf die Straße einbogen, um in den Urlaub zu fahren. Michael und Ben, meine beiden Kinder, versuchten ihre Gefühle zurückzuhalten, fragten aber mit offenkundiger Verärgerung: »Papa, wohin fahren wir denn eigentlich?« Da wir noch drei Kilometer von dem Autobahnkreuz entfernt waren, an dem wir dann eine Entscheidung treffen mussten, erwiderte ich: »Wir müssen jetzt noch keine Entscheidung fällen. Wir haben noch ein paar Minuten Zeit, um darüber nachzudenken.«

Als Professor fliege ich oft im Land umher, um Vorträge zu halten. Natürlich plane ich die Reisen fast nie. Einmal schaute ich mir die Einladung zum Vortrag erst an, als das Flugzeug gerade nach Philadelphia gestartet war. Ich entdeckte, dass ich den Vortrag in Harrisburg halten sollte, nicht in Philadelphia. Hoppla! Als ich in Philadelphia ankam, raste ich durch den Flughafen, mietete mir einen Wagen und fuhr die 230 km nach Harrisburg zu dem Hotel, in dem ich meinen Vortrag halten sollte. Zwei Minuten, bevor ich mit der Präsentation beginnen sollte, erreichte ich das Podium. Da saßen nun etwa 400 Personen im Publikum, und die Sponsoren meines Vortrags fragten sich aufgeregt, was mir denn nun zugestoßen sei. Ich drehte mich zu ihnen um und witzelte: »Vermutlich bin ich ein oder zwei Minuten zu früh da.« Ich musste nur darauf aufmerksam machen, dass sich wohlorganisierte Menschen oft ohne Grund Sorgen machen.

Ich war etwa 40, als ich zum ersten Mal auf den Gedanken kam, dass viele Menschen Details für wichtig halten und sie nicht als lästiges Ärgernis empfinden. Viele Leute haben mir gesagt, dass Details bedeutsam sind, aber ich dachte, sie entschuldigten sich nur dafür, dass sie im Morast der Trivialitäten versunken sind. Ich konzentriere mich gerne auf das Wesentliche an einer Sache oder auf das so genannte große Ganze. Ich hatte lange gedacht, dass das große Ganze so offenkundig ist, dass man nicht stolz darauf sein muss, es von anderen Dingen unterscheiden zu können.

Als ich in der Grundschule war, sagten die Lehrer zu meinen Eltern, ich sei gescheit, aber sehr schludrig. Meiner Meinung nach war es toll, gescheit zu sein, und ein wenig Schludrigkeit ein Beleg dafür, dass ich ein ganz normaler Mensch bin. Ich hatte keine Ahnung, warum die Menschen ihre kostbare Zeit für Ordnungsliebe verschwendeten. Als Junge arbeitete ich an logischen Beweisen dafür, dass Saubermachen unnötig ist. Beispielsweise sagte ich meiner Mutter immer, das Haus müsse morgen genauso aufgeräumt werden wie heute; deshalb könne sie es heute sein lassen und einfach morgen sauber machen. Was meine Wertvorstellungen betrifft, so gehörte Ordnungsliebe nie dazu.

Ich kann Papierkram nicht ausstehen. Formulare auszufüllen gehört für mich zu den größten Unannehmlichkeiten, die ich mir im Leben vorstellen kann. Ich gebe meiner Frau Maggi alle Formulare und bitte sie, das für mich zu erledigen. Es widerstrebt mir, auch nur die einfachsten Formulare auszufüllen. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich einmal mit einer heute berühmten Kinderpsychologin führte, mit Susan. Wir kennen uns seit der Zeit, als wir in den 1960er Jahren beide Doktoranden in Yale waren. Susan hat ihr Leben ohne Führerschein verbracht. Sie nimmt den Bus oder die Bahn und verlässt sich auf die Großzügigkeit von Freunden. Einmal fragte ich Susan, warum sie denn nicht wie alle anderen Menschen einen Führerschein gemacht hätte. Sie antwortete, dass sie den dazu erforderlichen Papierkram nicht auf sich nehmen wolle. Ich dachte mir: Kluge Menschen sind im Grunde alle gleich.

Eine wohlorganisierte Person

Meine Frau Maggi denkt seit langem, mit mir stimmt etwas nicht. Es ist ihr ein Rätsel, dass ich es nicht gelernt habe, mehr Ordnung in mein Leben zu bringen. Ich sage ihr, dass es mir Spaß macht, desorganisiert zu sein, aber sie tut das einfach als Gerede ab. Sie weiß, dass sie sich gut fühlt, wenn sie wohlorganisiert ist, aber nicht, wenn sie desorganisiert ist. Da sie von Natur aus so beschaffen ist, dass sie der Ordnungsliebe einen hohen Stellenwert beimisst, glaubt sie, es liege in der Natur des Menschen, so zu sein. Sie ist sich sicher, dass ich besser dran wäre, wenn ich mehr Ordnung in mein Leben brächte. Ich wäre nicht nur »effizienter«, wie sie es ausdrückt, sondern ich wäre auch glücklicher.

Maggi unterstellt, jeder käme mit dem Potenzial auf die Welt, ein wohlorganisierter Mensch zu sein, dass jedoch in meinem Fall etwas schiefgegangen sei. Sie weiß zwar nicht, was es ist, aber sie ist überzeugt, irgendetwas ging schief. Vielleicht sei ich als Baby von der Wickelkommode gefallen und hätte einen Hirnschaden, den man bisher noch nicht entdeckt hat. Möglicherweise hätte ich traumatische Erfahrungen gemacht, als ich lernen musste, nicht mehr in die Hose zu machen. Vielleicht seien meine Eltern unordentlich gewesen und hätten in mir nie die Fähigkeit aisgebildet, die Dinge auf die Reihe zu bekommen. Die Lösung des Problems, so meint sie, bestünde darin, mir beizubringen, wie ich mein Leben ordentlich in den Griff bekommen kann. Zu dem Zeitpunkt, als wir uns kennenlernten, war mir nicht klar, was Maggi insgeheim dachte: Ich bräuchte sie, damit aus mir ein ordentlicherer Mensch würde. Sie rückte eigentlich nicht richtig damit heraus und sagte mir nicht, dass sie plante, mich nach der Hochzeit zu ändern. Doch das war es, was ihr vorschwebte.

Ich sage Maggi immer wieder, dass es mir gefällt, desorganisiert zu sein, aber sie glaubt mir nicht. Ich erzähle ihr, dass ich mich in Zimmern wohl fühle, die ein wenig unordentlich sind (ich nenne sie »bewohnt«). Ich sage ihr, dass ich mich in Räumen unwohl fühle, die mustergültig aufgeräumt sind. Sie kontert: »Ordentlich zu sein ist besser, als desorganisiert zu sein.« Allem Anschein nach ist sie der Meinung, dass Ordnungsliebe eine göttliche Offenbarung ist. Sie glaubt, dass ich tief im Innern mit meiner desorganisierten Lebensweise unzufrieden bin, jedoch zu stolz, das zuzugeben.

Wie die meisten ordentlichen Menschen ist Maggi sehr sauber. Nachdem wir geheiratet hatten, sahen alle in unserem Bekanntenkreis meine Frau als eine Art »Messlatte« für Ordnung und Sauberkeit im Haushalt an. Sie sagten so etwas wie: »Ich war neulich bei Sue. Ihr Haus war unglaublich sauber, aber natürlich nicht so sauber wie das von Maggi.« Ich gebe zu, dass ich allmählich zu schätzen gelernt habe, wie sauber unser Haus ist – aber ich fühle mich weiterhin wohler in Zimmern, die nicht aufgeräumt sind.

Im ersten Frühjahr nach unserer Hochzeit stellte Maggi eine kleine Armada von Helfern an, um unsere bereits mustergültig saubere Wohnung zu putzen. Das war der Zeitpunkt, an dem mich Maggi mit den Frühjahrsputzritualen ihrer Familie vertraut machte. Ich konnte es gar nicht glauben: eine detaillierte Sammlung von Frühjahrsputzanweisungen, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde. Der Heilige Gral der Familie, in die ich eingeheiratet hatte, war ein Handbuch für den Frühjahrsputz! Ich hatte das Konzept verstanden, Dinge sauberzumachen, die schmutzig sind. Aber erst nach der Heirat mit Maggi wurde mir klar, dass manche Menschen Sachen reinigen, die schon sauber sind.

Motivation für Ordnungsliebe und Unordentlichkeit

Die klassische Psychoanalyse ordentlicher Menschen scheint – selbst gemessen an freudianischen Standards – ziemlich an den Haaren herbeigezogen zu sein. Nach Freud hat jeder von Natur aus Vergnügen am Stuhlgang, doch ordentliche Menschen können sich das nicht eingestehen. Ordentliche Menschen machen eine unbewusste »Reaktionsbildung« durch, das heißt, sie sind sauber und ordentlich, um ihre eigentliche Vorliebe für Kot zu verbergen. Sie selbst sind sich nicht bewusst, welche Anziehungskraft die Stuhlentleerung auf sie ausübt. Unbewusst befürchten sie, ihre Eltern lehnten sie ab oder würden sie dafür bestrafen, dass sie ihre natürliche Begeisterung für den Stuhlgang offen zeigen. Im Gegensatz dazu haben unordentliche Menschen eine direktere Beziehung zu den natürlichen Freuden der Defäkation.

Außerdem weisen Psychoanalytiker darauf hin, dass die Erfahrungen, die ein Kind mit der Sauberkeitserziehung macht, einen Einfluss darauf haben können, wie ordentlich es werden wird. Psychoanalytiker unterscheiden zwischen zwei fehlangepassten Reaktionen auf die Sauberkeitserziehung: der anal-retentiven (Zurückhalten) und der anal-expulsiven (Ausstoßen). Millon und Davis (2000) beschrieben dies folgendermaßen: »Im Wesentlichen reagiert das [anal-retentive] Kind auf die Eltern, indem es ›zurückhält‹ und sich weigert, etwas Bestimmtes zu tun. Dies führt beim Erwachsenen zu solchen Persönlichkeitsmerkmalen wie Halsstarrigkeit, Geiz und verstecktem Ärger. Vom anal-retentiven Typus sagt man auch, dass die Betreffenden pünktlich, ordentlich, gewissenhaft sind und sich übermäßig mit Sauberkeit beschäftigen ... alles muss an seinem Platz sein, und es darf keine Unordnung geben« (S. 182). Im Gegensatz dazu verschmiert der anal-expulsive Typus Kot, um gegen die Eltern anzukämpfen. Er ist angeblich unordentlich, sadistisch, grausam und zerstörerisch.

Erikson (1999/1950) und White und Watt (1973) haben die Auffassung vertreten, dass die Sauberkeitserziehung nur eine von einer Reihe wichtiger Situationen ist, bei der die Triebregungen des Kindes in Konflikt mit der Autorität des Erwachsenen geraten. Kinder, die lernen, sich gegenüber der Autoritätsperson konform zu zeigen, können im Laufe ihrer Entwicklung ordentlich werden, während diejenigen, die rebellieren, im Laufe ihrer Entwicklung möglicherweise unordentlich werden. Folgt man diesem Gedankengang, muss man annehmen, dass Maggis Eltern Wert auf eiserne Disziplin legten. Sie wurde zur Konformistin, und wegen ihres Bedürfnisses, sich anzupassen, wurde sie zu der wohlorganisierten Frau, die sie heute ist. Im Gegensatz dazu kann man unterstellen, dass meine Eltern nachgiebig waren. Ich habe nie die Disziplin gelernt, die für Konformität erforderlich ist. Und ohne die entsprechende Disziplin wurde ich zu dem desorganisierten Mann, der ich heute bin.

Andere Psychoanalytiker sagen jedoch, dass Unordentlichkeit ein versteckter Ausdruck des Ärgers ist, der wiederum ein Motiv für Nonkonformismus oder Aufsässigkeit ist. Nach dieser Auffassung mache ich andere Menschen ärgerlich, wenn ich in meinem Büro ein Durcheinander hinterlasse, wenn ich keine Pläne entwickle, so dass meine Familie nicht weiß, was wir demnächst machen werden, oder wenn ich andere Leute ständig dazu bringe, sich zu fragen, wo ich denn bleibe, bevor ich dann in der letzten Minute bei Terminen auftauche. Die Hypothese lautet, dass ich sie verärgere, weil ich ärgerlich bin. Psychodynamische Therapeuten würden sagen, dass ich ärgerlich auf meine Eltern bin, aber ich übertrage meinen Ärger auf meine Frau, meine Kinder und meine Kollegen. Wenn ich unter Stress bin, sagen sie, zeige ich vielleicht Symptome des Ärgers oder vielleicht einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung.