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Anke Fehring

Irgendwann mal werde ich …

10 Weckrufe, damit Sie jetzt neu in Ihr Leben starten!

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©2020 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-012-4

Lektorat: Ulrike Hollmann, Hambergen

Copyright © 2020 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

www.gabal-verlag.de

»I love sleep. My life has the tendency to fall apart
when I’m awake, you know?«

ERNEST HEMINGWAY

Für Muddern

Inhalt

Prolog: »Du kannst so toll Sandwiches holen!«

10 Arten, wie Sie vielleicht Ihr Leben verschlafen

#1 »Alles gut.«

Zweckoptimismus & Selbsttäuschung

#2 »Was hast du gesagt?«

Anwesend, aber nicht präsent

#3 »Ich kann das nicht.«

Selbstunterschätzung & starres Selbstbild

#4 »Ich vergleiche mich, also bin ich.«

Images & Orientierungsfallen auf Facebook, Instagram etc.

#5 »Ich bin dann mal weg.«

Betäubung mit Serien, Spiele-Apps und Alkohol

#6 »Sag du mir einfach, was ich machen soll.«

Sich anpassen & Erwartungen erfüllen

#7 »Keine Zeit, muss arbeiten.«

Arbeit als Ersatz für alles

#8 »Irgendwann mal werde ich …«

Träume statt Ziele

#9 »Ich würde ja, aber du stehst mir im Weg!«

Konfliktvermeidung & vorauseilender Gehorsam

#10 »Ja, aber …«

Zweifel, Zweifel, Zweifel

Abschluss: »Sich zufriedengeben vs. zufrieden sein«

Wachsam wachsen statt sich selbst optimieren

Epilog: Carpe the hell out of this diem!

Selbstreflexionstest

11.55 Uhr: Letzter Weckruf

Anhang

Danke

Literaturverzeichnis und Empfehlungen

Über die Autorin

Prolog:

»Du kannst so toll Sandwiches holen!«

Im Sommer 2004, ich war 24, stand ich backstage auf einem Klassik-Festival bei Berlin. Monatelang hatte ich intensiv vier Konzerte mit hochkarätigen Musikern vorbereitet und alle Organisationsfäden in der Hand gehalten. Direkt nach dem erfolgreichen Abschlusskonzert standen wir mit einigen Musikern zusammen. Erschöpft, aber zufrieden. Einer der teilnehmenden Stargeiger hatte noch Hunger, also holte ich schnell ein paar Sandwiches für ihn aus seiner Garderobe.

Und dann kam er. Der Satz, der mir bis heute ins Gedächtnis gebrannt ist:

»Anke, du kannst so toll Sandwiches holen!«

Ehrlich jetzt? Ich stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor meinem Diplom, hatte ein 1er-Abitur in der Tasche und zwei Semester in den USA studiert. Ins Kulturmanagement war ich durch ein Praktikum eher zufällig gerutscht. Die Arbeit machte mir großen Spaß, aber schon länger ahnte ich, dass ich im Organisationsbereich nicht mein eigentliches Potenzial leben konnte.

Ich wünschte, ich könnte jetzt behaupten, dass dieser Sandwich-Kommentar meinen persönlichen Wendepunkt darstellte. Dass ich an genau diesem Zeitpunkt aufwachte, mein Leben heroisch in die Hand nahm, mein volles Potenzial lebte und mich nie wieder unter Wert verkaufte … Leider nein. Es war ein erster Weckruf, ja. Aber ich habe danach noch viele Jahre lang den (beruflichen) Snooze-Button gedrückt.

Es gibt unendlich viele Wege, wie wir unser Leben tagtäglich verschlafen können. Sich stets unter Wert zu verkaufen, ist einer davon. Das Leben von anderen mitzuleben, ein anderer. Was ist Ihr bevorzugter Snooze-Button? Vielleicht betäuben Sie sich mit viel Arbeit? Oder TV-Serien? Oder flüchten Sie gerne in Tagträume und verschieben das echte Leben, Ihre größten Ziele immer weiter nach hinten?

»Irgendwann mal werde ich …« Snooze-Button! Und zack – schon wieder sind fünf Jahre rum. Keine Entscheidung zu treffen, ist auch eine Entscheidung.

Mit diesem Buch verfolge ich ein Ziel: Ich möchte, dass Sie sich liebevoll ertappt fühlen. Dafür stelle ich Ihnen zehn Arten vor, wie man sein Leben verschlafen kann, und ich bin mir sicher – nein, ich wette sogar –, dass Sie sich in mindestens einer davon wiedererkennen. Wenn Sie ehrlich genug sind. Denn selbst wenn Sie unglaublich fleißig und aktiv sind, kann es sein, dass Sie vielleicht Teile Ihres Lebens verschlafen. Arbeit und Aktionismus sind in unserer heutigen Zeit ein ähnlich beliebter Snooze-Button wie ein Parallelleben auf Facebook oder Instagram.

Ich möchte, dass Sie sich selbst ertappen, denn erst wenn Sie erkennen, dass Sie schlafen und auf welche Arten Sie Phasen oder Teile Ihres Lebens verschlafen, haben Sie die Chance aufzuwachen. Ich bereue keine Minute meines Lebens. Aber ich ärgere mich schon sehr, dass ich erst viele Jahre nach dem Sandwich-Vorfall anfing, beruflich das zu machen, was ich richtig gut kann und liebe.

Und damit bin ich nicht allein! Als Coach sehe ich, dass sich dieses Problem durch alle Altersklassen und Lebensphasen hindurchzieht: Wir drücken instinktiv in den Momenten den Snooze-Button, in denen wir eigentlich hellwach sein sollten. Nämlich dann, wenn eine Kurskorrektur notwendig wäre und wir unser Leben dringend ändern müssten.

Aus eigener Erfahrung und aus meiner Arbeit als Coach weiß ich, dass es nicht einfach ist, aufzuwachen und sein Leben neu in die Hand zu nehmen. Deshalb gebe ich Ihnen in den einzelnen Kapiteln und am Ende des Buches ein paar praktische Tipps und Übungen an die Hand. Außerdem finden Sie nach dem Selbstreflexionstest am Ende des Buchs einen Link, unter dem Sie sich ein kostenloses Mini-Workbook zum Buch herunterladen können.

Anhand vieler Geschichten und Beispiele möchte ich Sie mit diesem Buch dazu ermutigen, genau hinzusehen: In welchen Bereichen Ihres Lebens haben Sie die Tendenz, etwas zu verschlafen? Wie genau zeigt sich das? Und gibt es Gründe dafür?

Es gibt auf jeden Fall einen guten Grund, den Wecker auszuschalten und für Ihr Leben aufzustehen, und zwar nicht irgendwann mal, sondern jetzt! Sie haben nämlich nur dieses eine.

Also Augen auf und durch! image

PS: Ich selbst fühle mich in meinem Lesefluss unterbrochen, wenn ich im Text auf ausführliche personenbezogene Bezeichnungen treffe, die allen Geschlechtern gerecht werden möchten. Deshalb werde ich darauf verzichten, was keinesfalls eine Herabsetzung der anderen Geschlechter bedeutet, sondern allein dem flüssigen Lesen dient.

Zehn Arten, wie Sie vielleicht Ihr Leben verschlafen

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#1

»Alles gut.«

Zweckoptimismus & Selbsttäuschung

Die einfachste Antwort

Sagen Sie immer die Wahrheit, wenn Sie gefragt werden, wie es Ihnen geht? Sosehr ich mich manchmal darüber ärgere, erwische ich mich doch immer wieder dabei, dass ich als Antwort auf die Frage »Wie geht es dir automatisch die zwei bequemsten Wörter überhaupt raushaue: »Alles gut!« Sehr selten variiere ich zu: »So weit, so gut.« Oder: »Geht so.« Aber da muss es mir schon sehr schlecht gehen …

Eine Studie der britischen Mental Health Foundation von 2016 hat herausgefunden, dass ein Erwachsener im Laufe einer Woche durchschnittlich 14 Mal »I’m fine« (also: alles gut) sagt, obwohl das in nur 19 Prozent der Fälle der Wahrheit entspricht.

Irgendwie gehört es ja auch zum guten Ton, dass ich meinem Gegenüber nicht gleich erzähle, welchen Stress ich gerade auf der Arbeit habe, über welchen Nachbarn ich mich ärgere oder dass ich traurig bin, weil mein Hund krank ist.

Entsprechend irritiert bin ich, wenn mir jemand – wie neulich passiert – auf mein obligatorisches »Alles gut. Und bei dir?« sehr viel ehrlicher antwortet und mir ausgiebig von all seinen Sorgen und Nöten berichtet. Da bin ich kurz davor zu sagen: »Hallo? Warum erzählst du mir das alles zwischen Tür und Angel? Mir geht’s auch nicht so rosig! Ich habe eben gelogen. Das macht man nämlich so!«

Aber warum macht man das eigentlich so?

In diesem Buch möchte ich mit Ihnen üben, sehr genau hinzusehen: auf die bewussten und unbewussten Arten, wie Sie Ihr Leben verschlafen. Dieses genaue Hinsehen üben wir als Erstes an dem scheinbar unscheinbaren Satz: »Alles (ist) gut.«

Die ehrlichen Antworten

Kennen Sie den Film »Liar, Liar« (»Der Dummschwätzer«) mit Jim Carrey? In diesem Film wird er von seinem Sohn aus Versehen verzaubert und kann 24 Stunden lang nicht lügen. Für ihn ist das als Anwalt ein relativ großes Problem, um nicht zu sagen: eine riesige Katastrophe. Er sagt vollkommen unkontrolliert das, was ihm gerade einfällt – vor allem: immer die Wahrheit.

»Ehrlichkeit ist anstrengend.«

STENDHAL

Stellen Sie sich vor, Sie würden verzaubert werden und könnten nicht mehr lügen. Was wären dann Ihre ehrlichen Antworten auf die Frage: »Wie geht es dir?«

»Ganz o. k. Mein Leben läuft so vor sich hin.«

»Ehrlich gesagt weiß ich gerade nicht, wohin mit mir.«

»Sieht man das nicht?«

»Nicht so gut, aber meine Probleme gehen dich nichts an.«

»Mir geht es fantastisch. Aber du siehst heute ziemlich beschissen aus.«

Bei einigen dieser Antworten wird schnell klar, warum wir manchmal darauf verzichten (sollten), die Wahrheit zu sagen. Es hätte weitreichende Konsequenzen für uns und unsere Beziehungen. Nicht zwingend positive.

»Alles gut?« – »Alles gut.«

»Alles gut« ist nicht nur eine Floskel, die wir benutzen, um die Frage »Wie geht es dir?« schnellstmöglich abzuwürgen, sondern wir setzen sie auch dann ein, wenn wir unsere wahren und inneren Reaktionen auf das gerade Geschehene verstecken möchten.

Dafür, dass ich ein verhältnismäßig ehrlicher Mensch bin, ist schon auffällig, wie oft ich mich hinter zwei Wörtern verstecke, die nach außen hin höflich wirken, aber eben auch darüber hinwegtäuschen, dass vielleicht manchmal nicht alles gut ist. Wenn ich ein Bild dafür finden müsste, würde ich sagen, es ist, als stünde eine Freundin oder ein Familienmitglied vor meiner Tür, klingelte, ich machte die Tür einen Spalt breit auf, würde gefragt: »Wie geht es dir?«, antwortete »Alles gut« und schlösse die Tür schnell wieder. Bloß niemanden reinlassen!

Aber wem ist damit geholfen?

Wenn Ihnen eine gute Freundin zum Beispiel gerade mitgeteilt hat, dass sie ihren Traumjob gefunden hat und dafür in eine andere Stadt ziehen muss, könnte ein ehrlicher Dialog dazu wie folgt aussehen:

»Ich muss dafür nach München ziehen. Was hältst du davon?«

»Waas??? Spinnst du??? Du kannst mich doch hier nicht alleine lassen!!!«

Und welcher Dialog findet in Wirklichkeit statt?

»Ich muss dafür nach München ziehen (lange Pause mit deutlichen nonverbalen Reaktionen auf beiden Seiten). Alles gut?«

»Alles gut.«

Ein anderes Beispiel: Sie haben Ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen gerade mit einer aufwendigen Präsentation Ihr neues Projekt vorgestellt. Als Sie fertig sind, schauen Sie in die Runde und hoffen auf (positives) Feedback. Es kommt aber nichts. Man wendet sich sofort dem nächsten Projekt zu. Am Ende des Meetings kommt eine Kollegin auf Sie zu, merkt, dass Sie sich etwas »eckig« verhalten, und fragt Sie: »Alles gut?«

Ihre ehrliche Antwort wäre: »Also, ehrlich gesagt habe ich mich das ganze Wochenende auf diese Präsentation vorbereitet und hatte sehr gehofft, wenigstens ein anerkennendes Wort dafür zu bekommen. Zum Beispiel von dir!« Und welcher Dialog findet stattdessen statt?

»Alles gut?«

»Alles gut.«

Je nachdem wie gut Ihr Pokerface ist oder eben nicht ist, kann Ihr Gegenüber vielleicht erkennen, was zwischen den Zeilen steckt. Im letzten Beispiel wäre das wohl: »Du wirst ja wohl hoffentlich selbst merken, dass euer Verhalten jetzt total daneben war!« Klingt aber ganz anders als das, was in den Zeilen steht. Oder?

Wen belügen wir eigentlich? Und warum?

Die essenzielle Frage ist, wen wir hier in erster Linie belügen.

Wollen wir, dass unser Gegenüber denkt, dass alles gut sei? Oder wollen wir auch (oder sogar nur) uns selbst vormachen, dass alles gut sei?

Schauen wir uns mal ein paar mögliche Gründe dafür an, warum wir nicht die Wahrheit sagen:

image Huch – ich weiß es gar nicht!

Oft wissen wir gar nicht, wie es uns geht! Die einfache Frage »Wie geht es dir?« überfordert uns dann so sehr, dass wir mit einem schnellen »Alles gut« darüber hinwegfegen und hoffen, dass keine detaillierteren Fragen nachkommen. Im Hinterkopf wird bei mir in diesen Momenten eine Lawine losgetreten: »Wie geht es mir eigentlich? Geht’s mir gut? Geht’s mir schlecht? Ist alles gut? Ich weiß es nicht!«

image Floskel – unbewusste Lüge nach außen

In vielen Situationen nutzen wir »Alles gut« als schnelle Floskel, um oberflächlich Konversation zu betreiben und im Gespräch nicht in die Tiefe gehen zu müssen. Wenn wir es ganz genau nehmen, könnten wir das zwar als Lüge bezeichnen, denn immerhin fragt uns jemand, wie es uns geht, und wir antworten mit einer Floskel, anstatt in uns hineinzuhorchen und wahrheitsgemäß zu berichten, was wir dort entdecken. Aber wie oben bereits erwähnt, gibt es durchaus Situationen, in denen man das als angemessenes, sozial kompatibles und sozial kompetentes Verhalten bezeichnen kann.

image Bewusste Lüge nach außen

Vielleicht steckt aber auch mehr dahinter? Ihnen ist wieder mal speiübel, weil Sie schwanger sind, aber Sie wollen Ihre Schwangerschaft noch geheim halten?

Oder Ihre Kinder fragen Sie, wie es Ihnen geht, aber Sie können und wollen die Neuigkeit einer schweren Krankheit von Oma noch nicht mit ihnen teilen?

Oder Sie haben Ihren Job verloren, vor ein paar Wochen schon, und wollen es niemandem erzählen, weil Sie sich wie ein Versager fühlen?

In diesen Fällen nutzen Sie »Alles gut«, um Ihr Gegenüber bewusst zu täuschen. Um ein Geheimnis zu bewahren, um niemanden zu beunruhigen oder um Ihr Image zu schützen.

image Es muss immer alles gut sein.

Darüber hinaus gibt es Menschen, die den Anspruch, die Erwartungshaltung an sich selbst haben, dass immer alles gut sein muss. Das kann zum einen daran liegen, dass sie ihr Image nach außen aufrechterhalten wollen und sehr ungern zugeben, wenn einmal nicht alles gut ist. (Damit sind wir wieder bei den bewussten Lügen.)

Es kann aber auch ein anderes Motiv dahinterliegen, nämlich ein Selbstbild, das sich so beschreiben lässt: »Alles ist gut. Denn ich bin sowieso immer mit allem zufrieden.« Und da schauen wir jetzt mal genauer hin, denn das kommt häufig vor und ist trotzdem vielen von uns nicht bewusst.

»Alles ist gut« als starres Selbstbild

»Alles ist gut« ist bei manchen Menschen Teil ihres (starren) Selbstbilds. Dahinter stecken der Anspruch und die immerwährende Erwartung: »Es geht mir gut. Ich habe keine Probleme. Alles ist easy. Völlig egal, was gerade um mich herum passiert …«

»Wie sanft ist doch die Täuschung.«

NICCOLÒ MACHIAVELLI

Stress auf der Arbeit? – Ja, aber alles gut!

Kleine Kinder zu Hause, die nicht schlafen? – Ja, aber alles gut!

Probleme in der Partnerschaft? – Ja, aber alles gut!

Mobbing im Büro? – Ja, aber alles gut!

Kündigung steht an? – Ja, aber alles gut!

Fisch gestorben, Fahrrad geklaut, Knieoperation? – Ja, aber alles gut!

Dieses Selbstbild ist ziemlich gefährlich. Es erlaubt nämlich wenig Spielraum für Frustration. Oder noch schlimmer: Es erstickt jede Frustration im Keim und damit zerstört dieses Selbstbild einen essenziellen Motor für Veränderung.

Wenn ich den Anspruch an mich habe, mit allem so zufrieden zu sein, dass alles »irgendwie gut« ist, dann lasse ich genau die Momente nicht zu, in denen mir klar werden könnte: »So geht es nicht weiter!« Denn solange es mir gut geht, muss ich ja nichts verändern! Hand aufs Herz: Reden Sie sich auch manchmal ein, alles sei gut, um eben nicht so genau hinsehen zu müssen?

Wie könnten Ihre Antworten lauten, wenn Sie ganz genau hinsähen und ehrlich zu sich wären?

Stress auf der Arbeit? – Ja, deswegen muss ich einen Weg finden, um effektiver zu arbeiten oder zu delegieren!

Kleine Kinder zu Hause, die nicht schlafen? – Ja, deswegen muss ich mir dringend Unterstützung holen, weil ich sonst in spätestens einem Jahr einen Burn-out erleide.

Probleme in der Partnerschaft? – Ja, deshalb müssen wir unbedingt mehr Zeit zu zweit verbringen.

Mobbing im Büro? – Ja, deswegen muss ich mir Hilfe holen, alleine komme ich damit nicht weiter.

Kündigung steht an? – Ja, deshalb muss ich mich jetzt proaktiv um einen neuen Job bemühen.

Fisch gestorben, Fahrrad geklaut, Knieoperation? – Ja, deshalb muss ich weinen, die Polizei rufen, Krücken kaufen.

Ich gebe zu: Das Stresslevel steigt deutlich bei diesen Antworten! Denn aus allem leiten sich plötzlich Aufgaben ab. Ist es vielleicht das, was Sie vermeiden möchten, wenn Sie sich einreden, dass (trotzdem) alles gut sei? Übergehen Sie deshalb das Gefühl, das Sie eigentlich haben, wenn Sie in sich hineinfühlen?

Wie geht es Ihnen wirklich?

In diesem ersten Kapitel, »Alles gut«, liegt sofort ein wichtiges und gleichzeitig sehr diffiziles Thema auf dem Tisch: unsere Gefühle.

Man muss kein Gefühlsexperte sein, um zu wissen, dass wir unsere wahren Gefühle komplett verneinen und verbal in die Tonne treten, wenn wir sagen – oder denken –: »Alles ist gut.« Wie kann in dieser unfassbar komplexen Welt jemals alles einfach gut sein? Und vor allem: Wann fühlt sich jemals alles gut an?

Selbstverständlich müssen Sie Ihrem Nachbarn, der morgens um 6.00 Uhr die Mülltonne zur selben Zeit rausstellt wie Sie, auf seine kurze Frage »Guten Morgen! Wie geht’s?« keinen spontanen Monolog von goethescher Art über Liebe, Trauer oder Ihren heute so deutlich empfundenen Weltschmerz halten!

Aber probieren Sie mal aus, wie es ist, wenn Sie morgens in den Spiegel schauen und sich ernsthaft fragen, wie es Ihnen heute geht. Wie fühlen Sie sich? Welche Gefühle verstecken sich in welchen Körperteilen? Bei mir ist es zum Beispiel so, dass ich in Zeiten von großem (emotionalen) Stress im Nackenbereich total verspannt bin. Und wenn ich in diese Körperregion genau reinspüre, verstecken sich dort Gefühle von Angst, Aufregung, Unsicherheit … Das muss ich nicht mit meinem Nachbarn morgens auf dem Bürgersteig teilen.

Nichtsdestotrotz lohnt es sich, der Frage »Wie geht’s dir?« bzw. »Wie geht’s mir?« einmal ehrlich auf den Grund zu gehen, anstatt sie vor anderen und vor allem vor mir selbst mit einem »Alles gut« im Keim zu ersticken und gar nicht erst zuzulassen.

ÜBUNG

Spiegel der Emotionen

Beobachten Sie sich einmal ein paar Tage lang sehr genau. Vielleicht können Sie die folgenden Fragen aber auch jetzt schon rückblickend für die letzten Tage beantworten:

1) Welche Gefühle hatten Sie?

Versuchen Sie, mindestens zehn Gefühle zu finden, die Sie in den letzten Tagen für sich selbst zugelassen und wirklich gespürt haben. Positive oder negative: ganz egal. Schreiben Sie gerne konkrete Beispiele und Situationen dazu, in denen Sie diese Gefühle hatten. Je konkreter und anschaulicher, desto besser.

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2) Welche Gefühle haben Sie gezeigt? Wie, wem und warum?

Nun überlegen Sie im nächsten Schritt, welche dieser positiven und negativen Gefühle Sie in welcher Form nach außen gezeigt haben.

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Reflektieren Sie:

• Wie haben Sie Ihre Gefühle gezeigt? Zu 100 Prozent oder doch eher zu 10 Prozent? Haben Sie sich bewusst gebremst? Oder haben Sie vielleicht Ihre erste Gefühlsregung nur »nacherzählt« und deshalb nicht mehr so intensiv gespürt?

• Wem haben Sie sich mit diesem Gefühl gezeigt? Nur einer Person? Oder mehreren? Waren es gezielt ausgesuchte Menschen aus Ihrem näheren Umfeld? Oder hat der Nachbar nur zufällig mitbekommen, dass Sie sich über Ihren Mann geärgert haben?

• Und nun reflektieren Sie, warum Sie Ihre Emotionen so gezeigt haben, wie Sie sie gezeigt haben. Und wem. Hatte das einen Grund, der Ihnen spätestens jetzt bewusst wird? Wollten Sie etwas damit bezwecken? Haben Sie Ihr Glück bewusst mit der Freundin geteilt, die sich am besten mitfreuen kann? Haben Sie Ihre Wut offen gezeigt, damit Ihr Gegenüber die Konsequenzen seines Handelns spürt? Haben Sie jemanden an Ihrer Trauer teilhaben lassen, der auch gerade trauert und deshalb besonders gut mitfühlen kann?

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3) Welche Gefühle haben Sie versteckt? Wie, vor wem und warum?

Welche Ihrer positiven und negativen Emotionen haben Sie nicht nach außen gezeigt?

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Reflektieren Sie:

• Warum haben Sie diese Gefühle versteckt? Waren sie Ihnen peinlich oder unangenehm? Oder wollten Sie Ihr Gegenüber schützen? Zeigen Sie sich grundsätzlich nicht gerne emotional nach außen? Warum nicht?

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