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PATRICK NINI

DIALOG statt Spaltung!

Verantwortungsbewusst
kommunizieren und Brücken bauen
in unserer Gesellschaft

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© 2020 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2020 erschienenen Buchtitel »Dialog
statt Spaltung« von Patrick Nini ©2020 GABAL Verlag GmbH,
Offenbach.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-009-4

ISBN epub: 978-3-95623-994-6

Lektorat: Sabine Rock, Frankfurt/M. | www.druckreif-rock.de

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorenfoto: Malte Robra

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

© 2020 GABAL Verlag, Offenbach

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Inhalt

Vorwort

Ein Wort zuvor – unsere Gesellschaft ist gespalten

TEIL I: GESPALTEN

1.Ideologien und innerste Überzeugungen - wie wir bewerten

Geschichte einer Spaltung: Ist die Erde flach?

Scheibe, Kugel oder doch was anderes?

Was unsere Sturheit mit unserem Gehirn zu tun hat

Niemand ist dumm

Gefangen im Schein

2.Die eigene Bubble – der Einfluss unserer kommunikativen Umfelder

Geschichte einer Spaltung: Mit Ihnen rede ich nicht!

Unzufrieden und gefangen in der Bubble

Informationswäsche für die politische Agenda

Das eigene Medienumfeld auf den Prüfstand stellen

Unser Freundes- und Bekanntenkreis

3.Social Media – Dichtung und Wahrheit

Geschichte einer Spaltung: Manipulation auf Social Media

Verantwortungslos mit unseren Daten

Die geheime Agenda und der »Belief Bias«

Die Filterblase

4.Political Correctness – Fluch oder Segen?

Geschichte einer Spaltung: Diskriminierung, die zum Äußersten führt

Der Spagat zwischen Akzeptanz und Meinungsfreiheit

Geschichte einer Spaltung: Als Minderheit leben – für immer?

Menschen, die sich diskriminiert fühlen (könnten), in Sprach-Watte packen?

Man wird das wohl noch sagen dürfen

5.Skrupellos – wie uns Unternehmen manipulieren

Bestandsaufnahme zur aktuellen Klimakrise

Geschichte einer Spaltung: Koste es, was es wolle

Lobbyismus at its best – dreist und skrupellos!

Greenwashing – es lebe die Scheinheiligkeit!

TEIL II: BRÜCKEN BAUEN

6.Wozu das alles? – Warum sich Reflexion lohnt

Geschichte vom Brückenbau: Wenn es zur Chefsache wird

Durch den Dialog einen Brückenpfeiler setzen

Brückenbau ohne Doppelmoral

Die Stimme der Aktionäre

Geschichte vom Brückenbau: Verantwortungsvolles Handeln anmahnen

Sie sind gefragt – auf in die Reflexion

7.Kommunikative Stützpfeiler – andere besser verstehen

Geschichte vom Brückenbau: Schicht im Schacht

Kommunikation als verbindender Stützpfeiler

Verständnis dort, wo es angebracht ist

Mutig nach vorne schauen

Geschichte vom Brückenbau: Invictus – eine wahre Begebenheit

Ereignisse, die Annäherung bringen und verbinden

8.Reaktionsschwellen – Trigger begreifen

Wenn bewusst getriggert wird

So werden undenkbare Positionen populär

Die Wut im Zaum halten

Gewissen Themen keine Bühne bieten

Akzeptiert in der eigenen Identität

Geschichte vom Brückenbau: Karneval und Kaiserschmarrn

Der interne Konflikt durch fehlende Identität

Prävention vor Strafe

Der Emotionsindustrie mit Fakten entgegentreten

9.Achtsamkeit entwickeln – Manipulationsversuchen keine Chance geben

Genauer hinschauen und den »Rahmen« hinter Wörtern erkennen

Manipulation allüberall

Von Metaphern umzingelt

Politik – eine einzige Metapher

Geschichte vom Brückenbau: Ein Aha-Erlebnis im Fernsehen

10.Bewusstheit aufbauen – kognitive Verzerrungen erkennen

Der Bias Blind Spot

Geschichte vom Brückenbau: Parteizugehörigkeit wider Willen

Aufrichtigkeit oder (politische) Karriere? Ein schmaler Grat

Geschichte vom Brückenbau: Parteilinien nicht sklavisch nachahmen

Spaltung – bleiben oder gehen?

Kognitive Verzerrungen – auch in Unternehmen

TEIL III: GEEINT

11.Wir sind alle Journalisten – jeder trägt Redaktionsverantwortung

Geschichte einer Einigung: Viren-Faktencheck dringend erforderlich

Fakes als solche erkennen

Wie definiert sich journalistische Verantwortung?

Meinung, Wissen und Fakten

12.Verantwortungsvoll kommunizieren – verantwortungsvoll handeln

Verantwortungsvolle Kommunikation in der Politik

Bedürfnisse unterschiedlichster Natur

Wie tickt der erwachsene Mensch? Ein Wertesystem

Langfristiges und kurzfristiges Denken

Geschichte einer Einigung: Es geht doch!

13.Klappe halten oder Mut zur bewussten Meinung – wir haben die Wahl

Zuhören ist angesagt

Geschichte einer Einigung: Ein nettes Mädchen schweigt – nicht?

Jeder kann etwas verändern

14.Wahrhaftige Kommunikation – ehrbare Organisationen

Der ehrbare Kaufmann – verschwunden für immer?

Echte Corporate Social Responsibility oder bloßer Schein?

Geschichte einer Einigung: Von Hirschen und Hasen

Ein soziales Dilemma – ist Mathematik die Lösung?

Wie du mir, so ich dir

Kommunikativ geeint in die Zukunft

15.Eine geeinte Gesellschaft – willkommen in der Zukunft

Integrative Intelligenz – wirksamer Erfolgsfaktor der geeinten Gesellschaft

Wo ein Wille, da ein Weg

Geschichte einer Einigung: Ein paradiesischer Planet

Es liegt an uns

Die Brücken in Schuss halten

Quellen

Literatur

Dank

Stichwortregister

Über den Autor

Vorwort

Nehmen wir an, nur mal so hypothetisch, jemand hätte das Internet komplett durchgelesen. Wüsste derjenige dann wirklich alles, was es zu wissen gibt? Nein. Und niemand wäre wohl verrückt genug, so etwas zu behaupten. Vielmehr würde eine Person, die ein solches Abenteuer wagt, wahrscheinlich noch viel weniger klarsehen als je zuvor. Schließlich hätte sie neben den vielen sicherlich brauchbaren Informationen auch den vollen Informationsschwall, den der »Schwarm« uns zumutet, automatisch mitkonsumiert: die Fake News (also die echten), die Desinformationskampagnen, die diversen Verschwörungstheorien und die reale Wahlmanipulation, die ungesunden Seiten für gesundheitliche Aufklärung und vor allem natürlich die Kätzchen-Memes und so weiter.

Finden wir uns damit ab: Wissen oder das, was wir dafür halten, ist eine Illusion.

Genauso eine Illusion ist, dass wir alle permanent miteinander in echtem Kontakt sind. Per Messenger, Kommentarfunktion und E-Mail sind wir vielleicht vernetzt, aber deshalb noch längst nicht verbunden. Zum Glück erinnern meine Kinder mich immer wieder daran, was es bedeutet, wirklich in Kontakt zu sein. Wenn einer meiner Söhne mir etwas erzählen will, stellt er vorher sicher, dass ich auch wirklich bei der Sache bin. Ich kann ihm dreimal sagen, dass ich auch wirklich zuhöre – er fängt erst an zu reden, wenn ich mich ihm zuwende und ihm in die Augen schaue. Wenn Kinder etwas mitteilen wollen, fordern sie unsere volle Aufmerksamkeit ein. Sie kommunizieren erst, wenn sie sicher sind, dass eine echte und belastbare Verbindung besteht.

Im Gegensatz zu uns haben unsere Kinder noch nicht verlernt, was es bedeutet, wirklich in Kontakt und im Dialog zu sein.

Eine dritte Illusion, unter der unsere Kommunikation leidet, ist der Glaube, dass wir immer auch das sagen, was wir tatsächlich mitteilen wollen. »Würdest du mal die Freundlichkeit besitzen, dich an dein Versprechen zu halten, und pünktlich zum Abendessen kommen?« ist keine zielführende Äußerung. Ziel und Aussage gehen meilenweit aneinander vorbei: Obwohl der wahre Wunsch hinter diesen Worten das Bedürfnis nach Nähe ist, erzeugen sie Distanz und können damit zu Spaltung führen.

»Essen ist um sieben« – das wäre eine adäquate und vor allem glasklare Botschaft. Doch genau davon senden wir viel weniger aus, als wir glauben, und tragen damit sicher nicht zum kommunikativen Brückenbau bei. Im Bemühen, eine Verbindung herzustellen, zu einer Einigung zu kommen oder Lösungen zu finden, kommunizieren wir alles Mögliche, was die eigentliche Botschaft verschleiert: Urteile, Mutmaßungen oder Vorwürfe – all das, was Widerstände schürt, anstatt Menschen und Meinungen zu verbinden. Die meisten dieser spaltungsgeladenen Bomben zünden wir zwar unabsichtlich, aber wir zünden sie. Und dann wundern wir uns, wenn wir missverstanden werden und nicht wie gewünscht zu anderen Menschen durchdringen?

Das sind für mich die drei großen Illusionen unserer Zeit: die Wissensillusion, die Kontaktillusion und die Mitteilungsillusion. Sie sorgen dafür, dass wir in unseren Beziehungen und in unserer Gesellschaft Spaltung erleben, obwohl wir uns doch Verständigung wünschen.

Die gute Nachricht ist: Es gibt ein Mittel, mit dem wir all diese Illusionen und die allgegenwärtige Spaltung im Kleinen wie im Großen überwinden können: den Dialog! Er ist die nachhaltigste Kommunikationsstrategie für gelingende Verständigung. Er ist die effektivste Kulturtechnik gegen das Nicht-Wissen. Er ist der zuverlässigste Klarsichtfilter gegen die Nebelbomben der Alltagskommunikation. Das intime Gespräch zwischen zwei oder mehr Menschen, der bilaterale wie der große gesellschaftliche Dialog, der geflüsterte Hinweis genauso wie die angeregte Grundsatzdiskussion: Der direkte Austausch auf Augenhöhe ist unsere einzige Chance auf Klarheit.

Auf dem Weg zum verantwortungsbewussten kommunikativen Brückenbau wünsche ich mir außerdem mehr Streit! Einen Streit auf der Grundlage einer Haltung, nicht einer Meinung. Wie er früher einmal gemeint war: Rede – dann Gegenrede – und am Ende im besten Fall das Finden einer Lösung oder gar Wahrheit. Diskurs und Dialog statt Bezichtigung, mehr Debatten auf Augenhöhe und weniger Empörung!

Deshalb bin ich froh, dass Patrick Nini dem Dialog in diesem Buch die Aufmerksamkeit widmet, die ihm gebührt. Mit der Rückkehr ins Gespräch allein ist es nämlich nicht getan. Damit Dialoge gelingen können, brauchen wir außerdem Einsichten über das Wesen der Kommunikation und die Kompetenzen, uns auf verbindende und verbindliche Kommunikation überhaupt einzulassen.

Und noch etwas ist unverzichtbar: Offenheit. Gelingende Dialoge beruhen auf der grundlegenden Bereitschaft, als ein anderer Mensch aus dem Gespräch, aus der Interaktion mit anderen zu kommen, als der man hineingegangen ist. Ich empfehle Ihnen daher, mit genau dieser Bereitschaft auch in die Lektüre dieses Buches einzutauchen. Das ist nämlich auch so eine Grundregel der Verständigung, die wir scheinbar irgendwie verlernt haben: erst zuhören oder lesen und verstehen, dann reden oder anderweitig kommunizieren.

In diesem Sinne: Setzen Sie auf Dialog und Brückenbau und nicht auf Spaltung!

Kommen Sie gut an!

Ihr

René Borbonus

Ein Wort zuvor – unsere Gesellschaft ist gespalten

Seit einiger Zeit kann man anlässlich von Geburtstagen auf Facebook Spendenaufrufe durchführen. Ich habe zu meinem 33. Geburtstag auf dieser Plattform zu einer Spendenaktion für den gemeinnützigen Verein Sea-Watch aufgerufen. Sea-Watch hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen zu retten, die im Mittelmeer in Seenot geraten. Kurz darauf meldete sich ein empörter Geburtstagsgast bei mir: »Bist du verrückt? Warum machst du aus einem Geburtstag ein Politikum? Seenotrettung? Dazu habe ich sowieso meine eigene Meinung!« Er machte mir darüber hinaus den Vorschlag, ich solle doch, statt politische Statements abzugeben, das eingenommene Geld lieber in ein zukünftiges Eigenheim investieren.

Diese und ähnliche Diskussionen führe ich mit diesem Menschen nicht zum ersten Mal. Ganz im Gegenteil. Um die Beziehung zu ihm nicht zu gefährden, haben wir uns längst darauf geeinigt, besser keine politischen Gespräche mehr zu führen, denn politisch gesehen trennen uns Welten. Pointierter ausgedrückt könnte man auch sagen, zwischen uns befindet sich ein ideologischer Grand Canyon: Unsere Ansichten liegen sehr, sehr weit auseinander.

Eigentlich wollte ich mit meinem Spendenaufruf gar kein politisches Statement abgeben, das war nie meine Intention. Ich wollte einfach nur helfen, weil ich Videos von Rettungsaktionen gesehen hatte, bei denen sich Menschen in höchster Gefahr befinden und manche von ihnen trotz aller Bemühungen elendiglich ertrinken. Und ich finde, dass das so nicht weitergehen darf! Menschen mit ganz anderen Ansichten sehen an dieser Stelle jedoch statt Menschen etwas anderes in Gefahr, nämlich das christliche Abendland. Diese Menschen können mich und mein Spendenverhalten ebenso wenig verstehen wie mein Geburtstagsgast und reagieren darauf mit großer Entrüstung. Manche gehen sogar so weit, mich als linken, »fehlgeleiteten« Gutmenschen zu klassifizieren. Aber – bin ich das wirklich? Ich denke nicht. Ich wollte einfach nur meiner Verantwortung nachkommen.

Was mir auffällt: Unsere Gesellschaft definiert sich zunehmend anhand einer strikten Links-/Rechts-Achse. Entweder-oder – dazwischen scheint es keine weiteren Nuancen mehr zu geben. Diese starke Polarisierung führt aus meiner Sicht zu einem Tauziehen, bei dem es nur Verlierer zu geben scheint. Und dieses Gefühl – Verlierer zu sein – erzeugt bei vielen Menschen eine enorme Wut. Nehmen wir zum Beispiel das heftige Aufeinandertreffen von AfD-Befürwortern und AfD-Gegnern (AfD = Alternative für Deutschland). Am 27. Mai 2018 demonstrierte die AfD im Berliner Regierungsviertel mit knapp 5000 Anhängern für ein »besseres Deutschland«. Auf der gegenüberliegenden Seite der Spree demonstrierten laut Polizei 25 000 AfD-Gegner. In einem Showdown trafen die beiden Konfliktparteien aufeinander. Die AfD-Gegner brüllten wütend und lautstark immer abwechselnd »Ganz Berlin hasst die AfD« und »Nazischweine«, während die AfD-Befürworter »Widerstand« und »Ihr seid die Faschisten« schrien. Nur eine strikte Absperrung und der Einsatz von 2000 Beamten konnten wüste Gewalttaten verhindern. Wut ist jedoch nur eine der Emotionen, die auf beiden Seiten zu spüren waren. Diese Kontrahenten zeigten (und zeigen bis heute) auch tiefe Verachtung und fast schon glühenden Hass für den anderen, was den Spalt zwischen diesen politischen Lagern noch größer werden lässt.

Solchen Hass und solche Verachtung gab es oft genug in der europäischen Geschichte. Diese starken negativen Emotionen führten früher oder später meist zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Da reichte oft nur ein vermeintlich »kleines« Ereignis, um einen Krieg auszulösen. In den Schicksalsjahren zwischen 1933 und 1945 war es vor allem Hass, der von den damaligen Machthabern geschürt wurde und der zu den katastrophalen Verbrechen an der Menschheit führte. All dem war eine bewusst herbeigeführte Spaltung der Gesellschaft vorangegangen. Vom Zweiten Weltkrieg trennt uns bereits eine »angenehme« zeitliche Distanz: Wir können langsam anfangen, die Gedenkveranstaltung »100 Jahre Reichspogromnacht« vorzubereiten; schon heute gibt es kaum noch Zeitzeugen, die von persönlichen Erfahrungen aus dieser dunklen Zeit berichten können. Und auch sie wird es bald nicht mehr geben. Ich finde es in diesem Zusammenhang übrigens verantwortungslos, eine ganze Gruppe politisch Andersdenkender pauschal als »Nazis« oder »Faschisten« zu bezeichnen, denn das verharmlost diese vielfältig aufgeladenen Begriffe auf unzulängliche Art und Weise.

Dieses eindimensionale Links-Rechts-Denken, das einen großen Teil unseres politischen Diskurses bestimmt, hat eine Vorgeschichte: Die Linke hat ihre Wurzeln im Kommunismus und Sozialismus und forciert, kurz gesagt, die Gleichheit aller Menschen, während die Rechten sich unter anderem durch Nationalstolz und Tradition definieren. Eine solche triviale und geradezu simple Spaltung lässt jedoch aus meiner Sicht nicht genug Spielraum, um die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme konstruktiv anzugehen. Nehmen wir zum Beispiel den Umweltschutz. Aus der grünen Bewegung heraus wäre das eindeutig ein »linkes« Thema. Wie kann aber ein Thema, das den gesamten Planeten und unser aller Zukunft betrifft, rein links sein?

Blicken wir nur einmal in den Osten Deutschlands, wo noch immer viele Menschen ihren Job in umweltschädlichen Braunkohlekraftwerken verrichten. Die AfD kann Wähler aus dem Osten Deutschlands stark mobilisieren, indem sie die Existenzängste der betroffenen Bürger geschickt aufgreift. Die AfD möchte die Wähler in der Umweltdebatte nicht vergraulen. Sie geht nun den einfachsten Weg, sich vor der Diskussion zu drücken: Sie stempelt das Thema als »links« ab und erzeugt bequeme Feindbilder – womit eine weitere Spaltung entsteht und Menschen fast schon trotzig Standpunkte einnehmen, die rein sachlich nicht begründet werden können. Ich kann mich selbst gar nicht davon ausnehmen. Für mich war lange Zeit keine echte Diskussion mit Menschen möglich, die rechten Parteien nahestehen. Erst als ich erkannte, warum Menschen anders wählen, habe ich meinen Blick geweitet und war offen für einen Diskurs.

Eindimensionale Feindbilder und Hass können im schlimmsten Fall den Spalt, der schon heute in unserer Gesellschaft besteht, zu einem tiefen, unüberwindbaren Abgrund ausweiten. Das möchte ich verhindern helfen. Daher habe ich mich entschlossen, selbst politisch aktiv zu werden – und dieses Buch zu schreiben. Keine Angst, ich möchte Ihnen auf den folgenden Seiten nicht meine politische Meinung aufdrücken. Ich möchte Ihnen stattdessen meine Sicht der Dinge, also die Perspektive eines Kommunikationsexperten, näherbringen, ganz unabhängig von »rechten« oder »linken« Positionen.

Als die Idee zu diesem Buch geboren wurde, herrschte in Österreich gerade Wahlkampf. Ich war seit März 2018 Mitglied der liberalen Partei NEOS (Das Neue Österreich und Liberales Forum); diese hatte im Sommer 2019 dazu aufgerufen, sich für ein Nationalratsmandat zu bewerben. Da ich schon immer politisch interessiert und engagiert war, wollte ich es versuchen. Im Vorfeld zu diesem Schritt horchte ich intensiv in mich hinein, auch um herauszufinden, was mir persönlich wirklich wichtig ist. Ich fragte mich: In welchem Bereich sollte ein Politiker seine Stärken haben? Ganz klar, in der Kommunikation! In der Politik kann man mit kommunikativem Talent am meisten erreichen, weil verantwortungsvolle Kommunikation schließlich verantwortungsvolles Handeln zur Folge haben sollte. Im Zuge dieser Überlegungen wurde mir jedoch klar, dass aktuell auf politischer Ebene in sehr vielen Staaten kaum verantwortungsvolle Kommunikation stattfindet. Aus meiner Sicht kann man die wenigsten Parteien und politischen Organisationen heute – bezogen auf ihr kommunikatives Verhalten – als »wahr« und »klar« einordnen.

Ich halte es beispielsweise für vollkommen verantwortungslos, dass die Schweizerische Volkspartei (SVP) den ohnehin schon tragischen Mord an einem achtjährigen Jungen am 29. Juli 2019 am Bahnhof in Frankfurt am Main für sich instrumentalisierte und dieses Ereignis als Aufhänger für eine restriktivere Asylpolitik benutzte. Bei dem ausländischen Täter, der schon seit 2006 in der Schweiz lebte, wurde eine psychische Störung diagnostiziert, etwas, was auch jedem Inländer widerfahren kann. Auch die 75-jährige Schweizer Bürgerin, die vier Monate zuvor einen siebenjährigen Jungen auf dem Weg zur Schule erstochen hatte, war bereits mehrfach in psychiatrischer Behandlung. Dieses Ereignis hingegen wurde von der SVP nicht politisch instrumentalisiert, vermutlich, weil sie die Nationalität der Täterin nicht zum Thema machen konnte. Und das ist gut so; die beiden Todesfälle sind tragisch genug und sollten nicht auch noch dazu missbraucht werden, politisches Kleingeld zu machen. Auch hier können wir eine eindeutige Spaltung bei der Wahrnehmung und Interpretation von Ereignissen feststellen.

Immer wieder kocht – zumindest in Österreich – die »Schweinefleisch-Debatte« hoch, die 2019 in Deutschland ihren Ursprung hatte. Zwei Kitas entschieden sich, aus pragmatischen Gründen und aus Rücksicht auf zwei muslimische Kinder, kein Schweinefleisch mehr zu servieren. Die Eltern wurden informiert; die Kita argumentierte, es sei so einfacher, ein Menü bereitzustellen, das alle Kinder essen könnten. Weil dies für die Mehrheit der Kinder und Eltern in Ordnung war, sollte man meinen, das Thema sei erledigt. Kurz darauf zog jedoch die »Bild«-Zeitung in den »Schnitzelkrieg« und titelte »Kita streicht Schweinefleisch für alle Kinder«. Die Reaktion der österreichischen FPÖ ließ nicht lange auf sich warten – sie forderte ein Recht auf das Schnitzel im Verfassungsrang! Noch grotesker geht es kaum. Eine Entscheidung, die aus rein pragmatischen Gründen getroffen wurde, wird dazu benutzt, Hass und Wut der Bürger gegen Migranten zu schüren und so zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft beizutragen.

Genau diese Art der Kommunikation werden wir uns im Verlauf des Buches genauer ansehen. Auch auf jene Kräfte und Gruppierungen, die sich als »Mitte« bezeichnen, werden wir einen Blick werfen. Außerdem möchte ich Ihnen zeigen, an welchen Stellen wir durch eine verantwortungslose Kommunikation hinters Licht geführt werden. Und weiter: Hinter welchen – auf den ersten Blick scheinbar harmlosen – Äußerungen steckt eine politische Strategie? Was sind Fake News und wie können wir sie erkennen? Wo stoßen wir auf kognitive Verzerrung und wer spielt geschickt mit unserem Unterbewusstsein und unseren Emotionen?

Vielleicht fragen Sie sich, warum das alles für uns als Gesellschaft so wichtig ist. Nun, tagtäglich werden in vielen Ländern kleine und große Ereignisse von Parteien und Medien auf eine Weise skandalisiert und benutzt, dass die Klickzahlen in den sozialen Medien durch die Decke gehen – und diese Entwicklung lässt auch die vermeintlichen »Feindbilder« immer mächtiger werden. Genau diese Feindbilder treiben jedoch einen Keil in unsere Gesellschaft und machen einen vernünftigen, annähernd objektiven Diskurs kaum mehr möglich. Ich möchte in diesem Buch herausfinden, woran wir als mündige Bürger und Mediennutzer die Unehrlichkeit in diesen polarisierenden Aussagen erkennen und wie sich diese in vielen unterschiedlichen Facetten darstellt.

Denn eines sollten wir nicht vergessen: Jeder Konsument von Informationen wird irgendwann zum Kommentator dieser Informationen und ist damit zugleich Redakteur seines eigenen Medienzirkels und Netzwerks. Zu »liken« und bestimmte Nachrichten und Artikel zu teilen, ist ebenfalls ein wichtiger Akt der Kommunikation – und erfordert ein hohes Maß an Verantwortung eines jeden einzelnen Kommunikationsteilnehmers. Nur über den verantwortungsvollen Konsum von Medien finden wir den Weg in eine lebenswerte Zukunft, ganz egal, von welcher politischen Position aus wir agieren. Wir müssen unsere Positionen und Ansichten ständig überprüfen und weiterdenken, bis zur nächsten oder gar übernächsten Generation. Wer bei seinem Handeln ausschließlich den Maßstab des kurzfristigen Profits anlegt, verschenkt die Zukunft.

Dazu gehört auch ein gewisses Maß an Selbstreflexion. Wir alle sollten uns immer wieder fragen: »Bin ich noch in der Lage, den Standpunkt eines anderen zu beurteilen, ohne mich emotionalen Zwängen und Vorurteilen hinzugeben? Kann ich wirklich sachlich bleiben, wenn Objektivität gefordert ist?«

Natürlich werden wir uns niemals alle hundertprozentig einig sein, es wird immer Diskussionsbedarf geben. Selbst zwei Individuen, die auf dem gleichen Punkt auf der gedachten Links-/Rechts-Achse stehen, werden nicht überall einer Meinung sein. Jeder Mensch hat seine eigenen Glaubenssätze, seine persönlichen Erfahrungen und gemeisterten Herausforderungen, aus denen sich die eigene Ideologie entwickelt hat. Eine wohlhabende Frau berücksichtigt andere Dinge als eine arme Frau, wenn sie im Wahllokal ihr Kreuzchen macht. Ein Vater entscheidet vermutlich anders als ein Mann ohne Kinder. Ein Teenager wählt anders als ein Großvater. Und das ist gut so! Denn nur so entwickelt sich unsere Gesellschaft in ihrer Vielfältigkeit weiter.

Doch das Problem ist kein individuelles: Auch Unternehmen und Lobbyisten nutzen fragwürdige Kommunikationsstrategien, führen uns hinters Licht und tragen zur Spaltung von Meinungen, Ansichten und letztlich der Allgemeinheit bei. Dabei haben sie eine noch viel größere Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft als jeder Einzelne. Wir alle sollten Unternehmen stetig daran erinnern, keine Profite aus verantwortungslosem Handeln zu ziehen, und sie auffordern, für die Konsequenzen ihres Handelns einzustehen. Manche Unternehmen handeln erst dann verantwortungsvoll, wenn ihre Kunden, Mitarbeiter und Stakeholder das massiv einfordern. Auch Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sind möglicherweise Stakeholder eines Unternehmens. Möchten Sie nicht auch dazu beitragen, dass Unternehmen etwas anderes als billige Marketingslogans hinausposaunen? Möchten Sie nicht selbst Verantwortung übernehmen, indem Sie die Kommunikationswege, ja vielleicht sogar etwaige Manipulationen dieser Firmen durchschauen und aktiv eingreifen?

Wir alle sollten uns als verantwortungsvolle Journalisten verstehen, als Berichterstatter aus unserer eigenen Welt. Und zu den wichtigsten Qualifikationen eines guten Journalisten gehört die Fähigkeit, echte oder: wahrhaftige Berichterstattung von aufgeblähter, teilweise auch unrichtiger Meinungsmache zu unterscheiden. Erst wenn wir erkennen, wie oft wir verantwortungsloser, manipulativer und verzerrender Kommunikation ausgesetzt sind, sind wir in der Lage, uns dagegen zu wehren. Diese Erkenntnis steht und fällt mit dem Vermögen eines Menschen, achtsam und bewusst zu kommunizieren.

Ich rufe jeden Einzelnen dazu auf, durch verantwortungsvolle Kommunikation eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Standpunkten und Ansichten herzustellen. Mein Ziel? Dass Hass und Verachtung zwischen verschiedenen – nicht nur politischen – Gruppierungen weniger werden. Das kann nur gelingen, wenn immer mehr Menschen jene trügerischen Botschaften entlarven können, mit denen wir so oft konfrontiert werden. Vertreter diametral entgegengesetzter Ideologien sollten zumindest versuchen, die Standpunkte der anderen zu verstehen, und in eine Diskussion auf Augenhöhe eintreten. Schlussendlich möchte ich dazu beitragen, ideologische Brücken zu bauen und die Gesellschaft, so gut es geht, zu einen. Wenn es mir gelingt, mit diesem Buch zu einem solcherart neuen Denken und Handeln anzuregen, dann habe ich mein Ziel erreicht.

Ihr Patrick Nini

PS: Um der besseren Lesbarkeit willen verwende ich in meinen Beispielen und Anreden meistens nur eines der Geschlechter. Doch natürlich spreche ich Frauen, Männer und Diverse gleichermaßen an.

PPS: In diesem Buch finden Sie QR-Codes zu anderen Webseiten, für deren Inhalt ich nicht verantwortlich bin. Diese Seiten können Cookies enthalten. Der QR-Code verlinkt zunächst auf meine Webseite und leitet Sie umgehend an die Zieladresse weiter. So habe ich die Möglichkeit, den Link zu aktualisieren, sollte er sich nach Erscheinen des Buches verändern.

Teil I

GESPALTEN

1.

Ideologien und innerste Überzeugungen – wie wir bewerten

Wenn wir dem Unbewussten ausgeliefert sind, sind wir
hilflos und nicht in der Lage, zu reflektieren.

Hatten Sie es in politischen oder gesellschaftlichen Diskussionen schon einmal mit Menschen zu tun, die unbelehrbar wirkten? Wenn jemand Ihre Meinung nicht nur nicht annehmen, sondern gleich gar nicht hören will, kann das an unterschiedlichen Ideologien und Überzeugungen liegen. Es fühlt sich dann so an, als hätten die anderen eine Wand aufgebaut, an der alle unsere Argumente abprallen. Manchmal halten Menschen an Ideologien fest, die aus unserer Sicht gestrig und/oder sehr dogmatisch wirken. Die dazugehörigen Überzeugungen scheinen unverrückbar und stehen nicht zur Diskussion. Sie wirken, bildlich gesprochen, wie ein Graben, den man auch durch eine entsprechende Wortwahl nie überschreiten kann. Es gibt heute viele dieser Gräben, deren ausgeprägteste Form wir in der politischen Debatte sehen. Kommunikation scheitert oft an den einfachsten Fragen: Was ist das Beste für mich und die Gesellschaft? Wie sollten wir aktuell und künftig zusammenleben? Wohin bewegen wir uns als Planet Erde und wie entwickeln wir uns als Gesellschaft? Und vor allem: Ist es überhaupt noch möglich, die vielen weit auseinanderliegenden Standpunkte zu einen?

Geschichte einer Spaltung: Ist die Erde flach?

Samuel Rowbotham (1816 – 1884) war Erfinder und schrieb 1849 ein Manifest, das auf der Bibel aufbaut. In diesem Manifest »beweist« bzw. behauptet er, dass die Erde keine Kugel, sondern flach ist. Als Beweis gilt das Bedford Level Experiment, das Rowbotham am Bedford-Fluss in England durchgeführt hat. An einer Stelle verläuft der Fluss in einer Ebene komplett gerade und ermöglicht dadurch einen durchgehenden Blick über 9,7 Kilometer. Rowbotham installierte ein Teleskop etwa 20 Zentimeter über der Wasserlinie. Von diesem Punkt aus schickte er ein Boot mit zwei Metern Mastlänge flussabwärts. Wäre die Erde eine Kugel, so hätte Rowbotham seiner Logik nach den Mast am Ende der Strecke nicht mehr sehen dürfen. Er sah ihn aber und fand damit die Bestätigung seiner Theorie, dass die Erde flach sei. An ihrem Mittelpunkt befinde sich der Nordpol und seitlich sei sie von der Antarktis begrenzt. Aus dieser These heraus gründete sich nach dem Tod von Rowbotham 1884 die Universal Zetetic Society. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die neu gegründete Flat Earth Society diese These und vertritt seither standhaft die Meinung, die Kugeltheorie der Erde sei eine Lüge. Fake News!

Bislang hat aus Sicht der Flat Earth Society noch niemand die Wand der Antarktis durchbrochen – somit sei doch völlig klar, dass diese der »Zaun« sei, der die Erde umfasse. Einen weiteren Beweis finden die Anhänger der Flache-Erde-Theorie im Flugzeug. Erinnern Sie sich noch an Ihren letzten Flug? Haben Sie damals den Horizont betrachtet? Der Horizont war gerade, nicht wahr? Keine Spur einer Biegung. Wie kommen also manche Menschen auf die abstruse Idee, die Erde sei eine Kugel? Wäre sie tatsächlich eine Kugel, würden Sie doch nicht den gesamten Horizont sehen, sondern nur einen Teil davon und diesen gekrümmt. Dritter »Beweis«: Sie stehen an einem See und beobachten die Wasseroberfläche; bei Windstille wird diese Oberfläche glatt und ruhig sein. Wäre die Erde eine Kugel, gäbe es weder Seen, Meere noch Flüsse, denn durch die Zentrifugalkraft kämen diese Flüssigkeiten gar nicht zur Ruhe. Außerdem müssten Flüsse durch die Erdkrümmung enorme Höhenunterschiede überwinden. Die Mitglieder der Flat Earth Society könnten noch viele weitere Beweise für ihre Theorie liefern. Jedes Jahr im November diskutieren knapp 1000 Anhänger auf der Flat Earth Conference über neue Erkenntnisse, die ihr Weltbild bestätigen. Durch die entsprechende Kommunikation via Social Media wächst die Bewegung immer weiter und bekommt neue, überzeugte Mitglieder.

Immer wieder versuchen Journalisten zum einen, diese Sichtweise zu verstehen, und zum anderen, den Anhängern dieser Theorie die doch sehr eindeutigen Gegenargumente vorzulegen. Konfrontiert mit dem berühmten Bild, auf dem die Erde vom Weltraum aus betrachtet als Kugel zu sehen ist, reagieren die Adepten der Society lapidar mit »Fake«. Außerdem behaupten die Flat-Earth-Verteidiger, dass Mitarbeiter der NASA dafür bezahlt werden, sich gegen die Flat-Earth-Theorie auszusprechen. Sie behaupten darüber hinaus, dass Schülern eine andere Theorie eingetrichtert wird, damit die Antibewegung nicht zu groß wird, denn die Regierung würde nur davon profitieren, wenn sich das Bild einer Erdkugel durchsetzt.

Um weitere Konfrontationen zu vermeiden, werden viele Kinder der Flat-Earth-Befürworter also zu Hause unterrichtet.* Die Bewegung unternimmt alles in ihrer Macht Stehende, um ihre Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen. Was für ein Spalt zwischen – in diesem Fall buchstäblich – zwei Weltbildern …

Scheibe, Kugel oder doch was anderes?

Sosehr ich mir vorgenommen habe, in diesem Buch weitmöglichst neutral zu bleiben und nicht Partei zu ergreifen, werde ich es hier dennoch tun. Wenn Sie nach Lektüre der vielen Argumente für die Flat-Earth-Theorie nun vielleicht vermuten, ich gehöre der Bewegung an, kann ich an dieser Stelle Entwarnung geben. Ich erspare mir auch die Argumente, die für eine kugelförmige Erde sprechen. Viel mehr noch: Ich gehe mutig das Risiko ein, Sie zu vergraulen, sollten Sie ein Anhänger der Flat-Earth-Theorie sein. Schließlich hat die Bewegung auf ihrer internationalen Facebook-Seite mehr als 200 000 Fans und auf der Flat-Earth-Germany-Seite stolze 2600 Fans (Stand: 8. März 2020). Warum sollte also einer der Leser dieses Buches nicht Anhänger der Theorie sein? Obwohl: Menschen mit solchen Weltanschauungen greifen oft nur auf Informationen aus ihrem direkten Umfeld zurück, um auf diese Weise eine Bestätigung für die eigene Sichtweise zu erhalten. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit eines Flat-Earth-Lesers wohl eher gering und zumindest in dieser Hinsicht eine Spaltung meiner werten Leserschaft auszuschließen.

Bei den Anhängern der Flat-Earth-Theorie ist es offensichtlich, dass sie wissenschaftlichen Erkenntnissen eher misstrauisch begegnen. An sich ist diese skeptische Haltung gar nicht mal schlecht, denn die Wissenschaft lebt von der ständigen und erneuten Überprüfung bestehender Theorien durch andere Wissenschaftler. Diese Einstellung sollte jedoch nie in Fanatismus ausarten und auch keine Leugnung wissenschaftlich klar erwiesener Fakten beinhalten.

Was lernen wir aus diesen unverrückbaren Standpunkten, die es nicht nur im Wissenschaftsbereich gibt? Politische Ideologien sind ebenfalls Weltbilder. Es handelt sich um Ideen und Vorstellungen, um die sich eine Gruppe so lange sammelt, bis sie groß genug ist, um dem Ding auch einen Namen zu geben. Diese Ideen und Vorstellungen resultieren aus den eigenen Glaubenssätzen, dem eigenen Umfeld, dem Kreis der Freunde und Familie und insbesondere aus den Medien, die wir konsumieren. Einflüssen dieser Art sind wir tagtäglich ausgesetzt. Sie formen uns, ohne dass wir es bewusst wollen oder bemerken. Ein spezifisches Weltbild hilft dem Menschen, sich mit der Vielfalt zu arrangieren und die Komplexität des Lebens zu begreifen.

Das Weltbild anderer zu kritisieren, ist immer gefährlich, da dieses mit dem Innersten des Menschen – seiner emotionalen Überzeugung – verknüpft ist. Beides hat sich miteinander und parallel zueinander entwickelt. Ein Angriff auf das Weltbild wird schnell als Angriff auf die eigene Person gewertet. Hier dürfen wir uns also ruhig an die eigene Nase fassen, denn jeder von uns verfügt über ein bestimmtes Weltbild. Für gewöhnlich ist unser Weltbild komplett ausgehärtet, das heißt: Um auch nur eine winzige Änderung vorzunehmen, müssen gewaltige Kräfte mobilisiert werden. Angenommen, jemand präsentiert einen unleugbaren und eindeutigen Beweis dafür, dass die Erde tatsächlich flach ist – würden wir unser Weltbild entsprechend modifizieren? Würden wir stattdessen sofort versuchen, den Beweis zu kippen? Oder würden wir ihn einfach ignorieren?

Im Grunde genommen ist diese Diskussion ohnehin müßig. Schließlich weiß doch jeder, dass die Erde in Wirklichkeit ein Würfel ist.

Was unsere Sturheit mit unserem Gehirn zu tun hat

Jeder Tag liefert uns zig Beweise dafür, dass die Erde nicht flach ist. Einige der Strukturen, die wir Tag für Tag nutzen – der Flugverkehr, unser GPS-System, die Kommunikation via Satellitennetz – würden nicht funktionieren, wenn die Erde eine Scheibe wäre. Warum also hält sich diese Sichtweise trotzdem so hartnäckig? Es ist ja nicht so, als hätte die wissenschaftliche Gemeinschaft nicht versucht, die Anhänger der Flat-Earth-Theorie vom Gegenteil zu überzeugen.

In der Schule lernen wir, wie eine sachliche, faire Diskussion abläuft: Die eine Person vertritt den Pro-Standpunkt eines Themas und die andere Person den Kontra-Standpunkt. Beide untermauern ihren jeweiligen Standpunkt mit Fakten, bis einer der beiden erkennt, dass er einem Irrtum aufgesessen ist. Nach der Diskussion wird der Gewinner gewählt, also derjenige, dessen Argumente überzeugender waren. Ein weiterer Sieg für den rationalen Diskurs! So einfach ist es bei emotional tief verankerten Themen leider nicht.

Menschen sind von ihrer Grundkonstitution her nicht in der Lage, ihre Überzeugungen schnell oder einfach zu ändern. Das hängt nicht nur mit ihrer Erziehung zusammen, sondern ist auch neurologisch begründet. Die amerikanischen Hirnforscher Kaplan, Gimbel und Harris haben 2016 einen Versuch durchgeführt und die Hirnaktivitäten von 40 Probanden im Computertomografen gemessen.1 Die Versuchspersonen ordneten sich politisch dem liberalen Spektrum zu und wurden zunächst mit der unpolitischen Aussage konfrontiert, Albert Einstein sei der größte Physiker aller Zeiten. Manche haben erst nachdem ein paar Argumente vorgebracht wurden, ihre Meinung geändert. Niemand hat sich aber dagegen gesträubt, seine Meinung zu ändern. Es ist ungefähr so, als würde ich meiner Mutter erzählen, Samsung-Handys seien besser als Huawei-Handys. Ich weiß nicht, ob es so ist – aber meine Mutter würde mir hier vertrauen und diese Beurteilung akzeptieren, weil sie selbst keine Meinung dazu hat. Obwohl sie ein Handy der Marke Huawei besitzt, ist sie emotional nicht an den Hersteller gebunden.

Ganz anders sieht die Sache bei politischen Themen aus. Die Probanden des Experiments wurden mit Aussagen konfrontiert, die ihre innerste politische Überzeugung angriffen und infrage stellten. Den Forschern fiel nun Folgendes auf: Anders als bei der ersten Konfrontation gab es dieses Mal so gut wie keine Aktivität im orbitofrontalen Cortex des Gehirns, dem Bereich also, in dem rationale, kognitive und logische Prozesse stattfinden. Stattdessen waren sehr hohe Messwerte im dorsomedialen präfrontalen Cortex, in der Inselrinde sowie im Mandelkern (Amygdala) des Gehirns zu sehen. Man kann sich das fast so vorstellen, als würde man ein Wespennest mit bloßer Hand entfernen. Der präfrontale Cortex und die Amygdala sind für die emotionale Bewertung von Situationen zuständig, für die Früherkennung von Gefahren und die Konditionierung von Angstreflexen. Die drei Forscher stellten auch fest, dass diese Hirnbereiche umso stärker aktiv wurden, je emotionaler das Thema für den Probanden war.

Man erkennt daran deutlich: Wird jemand mit einer Äußerung konfrontiert, die sein Weltbild angreift, so wird nicht etwa der Teil seines Hirns aktiv, der sich um die rationale und objektive Verarbeitung kümmert, sondern der Teil, der rasche, emotionale und lebensrettende Entscheidungen trifft. Es ist, als hätten wir einen Aufpasser oder strengen Wächter in unserem Hirn, der bei Angriffen auf unsere Überzeugungen sofort Alarm schlägt. Und sobald dieser aktiv geworden ist, spielt es keine Rolle mehr, wie stark die Gegenargumente mit Beweisen untermauert sind: Das Gehirn ist im Alarmzustand und gibt erst wieder Entwarnung, wenn die Angriffe eingestellt werden.

Niemand ist dumm