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Für Volker, Julian, Zoe und Hanan.
Ich bin dankbar für jeden Tag,
an dem wir gemeinsam die Zukunft teilen und gestalten.

ANDERA GADEIB

Die Zukunft ist
menschlich

Manifest für einen intelligenten
Umgang mit dem digitalen Wandel
in unserer Gesellschaft

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Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-930-3

ISBN epub: 978-3-95623-871-0

Lektorat: Ulrike Hollmann, Hambergen

Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen | www.martinzech.de

Autorenfoto: Amanda Dahms

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

Copyright © 2019 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2019 erschienenen Buchtitel "Die Zukunft ist menschlich" von Andera Gedeib, ©2019 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise,
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Inhalt

Prolog: Ein Tag im Jahr 2050

Der Mensch im Mittelpunkt

Rückblick

1 Lösungen statt Probleme

Der gesunde Menschenverstand

Mensch und Maschine

2 Vom Algorithmus zum Menschen

Digitalität

Digitalisierung verändert Märkte – die Einfach-mal-machen-Ära

Roboter statt Mensch

Künstliche Intelligenz

Agieren statt reagieren

3 Das digitale Dilemma

Alles digital?

Das KISS-Prinzip

Übernimmt die Maschine?

Ethik

4 Die Gestaltungsfelder des digitalen Wandels

Einleitung

Arbeit

Freizeit & Leben

Bildung

Gesundheit

Mobilität

5 Wie wir das Digitale gestalten können

Methodenkoffer

Manifest

Anhang

Anmerkungen

Danke

Die Autorin

Testimonials

Wenn der Wind der Veränderung

weht, bauen die einen Mauern und

die anderen Windmühlen.

Chinesisches Sprichwort

PROLOG

Ein Tag im Jahr 2050

Wir befinden uns im Jahr 2050. Einem Jahr, in dem alles digitalisiert ist, was digitalisiert werden kann. Die lange Ankündigung ist wahr geworden.

Und wir werden fragen: Wo steht der Mensch? Wir schauen uns in die Augen und stellen fest, dass wir ja immer noch da sind. Dass es sogar Dinge gibt, die zutiefst human geblieben sind und – huch, entgegen allen Vorhersagen – nicht von Maschinen übernommen wurden. Im Gegenteil, der Mensch wird hier nun besonders wertgeschätzt. Mehr noch als vor Beginn der digitalen Revolution.

Wie wird dieses Szenario, unser Leben im Jahr 2050, aussehen? Welche Jobs wird es noch geben? Welche Tätigkeiten sind weggefallen, welche sind neu entstanden? Auf welchen Pfad haben wir in den Anfängen des Digitalisierungszeitalters unsere Kinder gesetzt, um ihnen eine bestmögliche Zukunft zu sichern? Welche Windmühlen haben wir gebaut, als der Wind der digitalen Veränderung aufzog?

Auf diese Fragen will dieses Buch eine Antwort geben. Es geht zurück auf die alten Philosophen, die das Wesen des Menschen schon vor Jahrtausenden, lange vor der digitalen (und industriellen) Revolution, erkundet haben. Außerdem greift es auf die neuesten Erkenntnisse der Gehirnforschung zurück und gibt eine Antwort darauf, welche Potenziale wir Menschen im Zeitalter der digitalen Revolution haben. Nicht zuletzt fußt es auf einigen Studien und der Erfahrung der Autorin und mehreren Tausend Interviews zu den Themen Innovation und Digitalisierung.

Im Gegensatz zu all den Horrorszenarien, in denen der Mensch keine Rolle mehr zu spielen scheint, will dieses Buch einen positiven Ausblick darüber geben, wie wichtig der Mensch in diesem Prozess ist. Es beschreibt anhand konkreter Beispiele, dass es an uns Menschen liegt, wie wir die Digitalisierung gestalten. Von Mensch zu Mensch und von Mensch zu Maschine (der Einfachheit halber werde ich im Buch den Computer mit seinen Bits und Bytes Maschine nennen). Es zeigt auf, wie jeder Einzelne Teil dieses aktiven Gestaltungsprozesses werden kann, wenn wir uns darauf einlassen. Wie wir Mut gewinnen, auch kritisch mit dem Digitalen umgehen und den digitalen Wandel aktiv bei den Hörnern packen. Ja, wie wir womöglich lernen, uns für die Digitalisierung zu begeistern.

Auch der weiteste Weg beginnt mit einem ersten Schritt.

Konfuzius, 551–479 v. Chr.

Dieses Buch ist eine Einladung, Teil dieses großen Transformationsprozesses zu sein, der in die Geschichte eingehen wird. Eine Einladung an jeden Einzelnen von uns, die Weichen für sein eigenes Leben und für das seiner Kinder und Enkel zu stellen. Denn es ist absehbar, dass die Welt unserer Kinder und Kindeskinder vollkommen anders aussehen wird als die Gegenwart, in der wir leben. Gestalten wir diese Zukunft also enkeltauglich.

Dabei meine ich mit »aktivem Gestalten des Digitalen« nicht, dass jeder zwangsläufig programmieren lernen muss, sondern dass wir die neuen, digitalen Angebote verstehen und einsetzen lernen. Dass wir von passiven Nutzern zu aktiven Gestaltern der (digitalen) Zukunft werden.

Das digitale Zeitalter hat gerade erst angefangen, und das in moderatem Tempo, auch wenn uns dies ganz und gar nicht so erscheint. Denn die technologischen Veränderungen entwickeln sich exponentiell und damit wird die Digitalisierung nie mehr so langsam voranschreiten wie heute. Dabei mag es sich jetzt schon anfühlen, als ob ein Schnellzug an einem vorbeirauscht.

Aber all das sollte uns keine Angst machen oder in Ohnmacht versetzen. Denn es könnte der Beginn einer der spannendsten Reisen sein, die wir je gemacht haben. Vorausgesetzt, wir breiten die Arme aus und heißen diese Veränderung willkommen. Denn auch die längste Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Öffnen wir uns für das Thema und trauen wir uns, eine erste neue Entdeckung zu machen, die wir zuvor – vielleicht aus Angst – gescheut haben. Seien Sie Teil dieser spannenden Reise. Gestalten Sie sie mit. Dieses Buch wird Ihnen die Perspektiven, Methoden und den Mut geben, das Thema aktiv anzugehen.

So etwa könnte ein Tag in der Zukunft aussehen: Noch bevor ich wach werde, registriert meine Matratze die Schlafqualität und stellt automatisch die optimale Temperatur ein. Sie merkt, wenn ich aufwache, und schickt ein Signal an die Kaffeemaschine. Diese kennt selbstverständlich meine Vorlieben um diese Uhrzeit und bereitet meinen Lieblingscappuccino vor, der frisch gebrüht auf mich wartet, wenn ich noch etwas verschlafen aus dem Bad in die Küche taumele. Nur Kaffee reicht als Flüssigkeitszufuhr über den Tag nicht. Deshalb trinke ich Wasser aus meiner intelligenten Flasche. Der Sensor in der Flasche verfolgt, wie viel Wasser ich über den Tag zu mir nehme, und ein hübsches Blinken in der Flasche sowie eine Push-Nachricht auf meinem Smartphone erinnern mich, wenn ich zu wenig trinke. Was reingeht, muss auch raus. Die intelligente Toilette analysiert wichtige Vitalparameter aus meinem Urin, den Blutdruck über den Sitz, empfiehlt mir vorausschauend die passende Ernährung für den Tag und sendet meine Biodaten selbstständig zum Arzt. Entdeckt dieser etwas Auffälliges in den Daten, meldet er sich bei mir und schlägt eine passende Therapie vor.

Ich mache mich für eine Kurzreise bereit. Bevor ich losfahre, chatte ich per App mit meinen Haushaltsgeräten. Der Kühlschrank schlägt vor, den Stromsparmodus zu aktivieren, und ich bestätige mit einem kurzen »OK« per Smartphone. Daraufhin wünschen mir die Hausgeräte eine gute Reise und ich verlasse das Haus. Vor der Haustür wartet das autonome Auto auf mich. Natürlich kennt es bereits mein Ziel. Ich setze mich in einen der bequemen Sessel und los geht die Fahrt. Selbstredend sitze ich nicht hinter dem Steuer, schließlich fährt das Auto von heute autonom und damit vollkommen selbstständig. Ich kann mich stattdessen während der Reise mithilfe der großen Displays an den Seitenwänden unterhalten lassen. Meine Lieblingsserien werden angezeigt, Vorschläge, die zu meinen Vorlieben passen, und die neuesten, individuell für mich zusammengestellten Nachrichten warten darauf, gelesen zu werden.

Was denken Sie? Ist das Szenario faszinierend oder abschreckend? Der Großteil der Menschen lehnt es heute ab.

Der Mensch im Mittelpunkt

Ich schreibe dieses Buch für die Zeit, in der es uns Menschen noch gibt. Also, in der sie die Oberhand behalten. Und zwar nicht nur weil ich aus tiefstem Herzen Optimistin bin, sondern auch weil ich fest davon überzeugt bin, dass uns noch sehr viel Zeit bleibt. Allerdings ist es auch höchste Zeit, die Zukunft in die Hand zu nehmen.

Die Dystopie von der Welt, in der die Maschinen das Sagen haben, liegt noch in weiter Ferne. Ich schaue wenig Science-Fiction-Filme und mir fehlt vielleicht die Vorstellungskraft, welche Maschinen im Film schon erfunden wurden, die uns Menschen überholen sollen. Aber ich bin von Hause aus mit der Informatik vertraut und glaube, sehr gut zu verstehen, was die letzten Jahrzehnte der Digitalisierung für uns bedeuten und wo die Reise hingehen könnte. Ich kann Sie gleich zu Anfang des Buches schon beruhigen: In jedem Fall sind wir weit davon entfernt, dass irgendwelche Computer für uns denken oder die Weltherrschaft übernehmen.

Da jede Maschine vom Menschen gemacht ist, schließe ich nicht aus, dass es solche Wahnsinnsideen irgendwo auf der Welt gibt. Vielleicht auch häufiger, als uns lieb ist. Begreifen Sie das als Aufruf an Sie, sich aufzumachen und ganz wach zu erkunden, worin wir Menschen gut sind und warum es nottut, dass jeder Einzelne von uns einen Unterschied machen kann. Mir liegt am Herzen, dass jeder ein Mindestmaß an Verständnis für die digitalen Entwicklungen hat und dass jeder Einzelne Verantwortung für seine eigene Zukunft, aber auch für unsere Gesellschaft übernimmt.

Doch sind wir als Gesellschaft, ist jeder Einzelne, die Politik bereit, die digitale Zukunft aktiv zu gestalten? Haben wir eine Vision, wie sich die Überlegenheit des Menschen auf unsere Arbeit auswirkt? Wie können wir mit den Möglichkeiten des Digitalen besser werden? Stehen wir der Digitalisierung positiv genug gegenüber? Was muss passieren, um uns in die Lage zu versetzen, sie positiv zu gestalten?

Mit jedem kleinen Schritt, jeder kleinen Antwort auf die vielen Fragen kommen wir der positiven Utopie näher: der Harmonie zwischen Mensch und Maschine.

Halb voll

Es ist Silvester. Meine 13-jährige Tochter gießt ein Glas ein und hält inne. Sie fragt: »Mama, ist das Glas halb voll oder halb leer?« Ich sage: »Es ist halb voll. Alles eine Frage der Einstellung.« Sie daraufhin: »Mama, es muss halb voll sein. Es gibt kein halb leer.« Auf meinen fragenden Blick erwidert sie: »Ein Glas kann voll sein und halb voll. Aber entweder es ist leer oder eben nicht leer. Ein ›halb leer‹ gibt es nicht.«

Guter Gedanke, schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht ist das Töchterchen weiter als die meisten von uns? Ich jedenfalls habe mir diese Halb-voll-Haltung recht bewusst zugelegt. Auf die Chancen zu schauen statt auf die Risiken. Eben auf das Halbvolle, auf die Möglichkeiten, die vor mir liegen, statt auf die verpassten Chancen. Dem will ich in diesem Buch nachgehen, befindet sich die Welt durch die Digitalisierung doch so sehr im Wandel, wie wir es bislang noch nicht erlebt haben.

Ist das Glas halb voll oder halb leer? Das ist eine Frage der Haltung. Ist sie positiv oder negativ? Geht alles zur Neige und wir können ohnehin nichts tun oder haben wir noch alle Chancen in der Hand?

Wir könnten nun einstimmen in all die negativen Schlagzeilen zur Digitalisierung. Beispielsweise, dass alle anderen Länder uns überholen. Erst das Silicon Valley oder Israel, dann China. Wer weiß, wer als Nächstes kommt und unserer Nation Chancenlosigkeit vorgaukelt. Die ehemals starke Wirtschaftsnation, abgehängt von all den anderen, die schneller sind, sich besser an die neuen Bedingungen anpassen? Na dann gute Nacht.

Und wohlgemerkt, fix unterwegs sind wir als Land wirklich nicht. Man sagt uns auch eher eine Technologiefeindlichkeit als -freundlichkeit nach,1 unsere Mobilfunk-Abdeckung oder mangelndes WLAN in Innenstädten oder im ÖPNV sind einzelne Beispiele dafür. Wir führen eine Diskussion, dass das Internet »nicht an jeder Milchkanne« (gemeint ist der ländliche Raum) nötig sei.2 Es sind harte Fakten, dass wir nicht ganz vorne an der Digital-Spitze stehen. Aber wie reagieren wir? Kopf hängen lassen und abwarten, was passiert? Ich bin dafür, dass wir gemeinsam eine Halb-voll-Haltung einnehmen und zusehen, was wir daraus machen können.

Meine Reisen in den vergangenen Jahren an die Hotspots der Digitalisierung oder Chancen-Orte haben mich vielfach inspiriert, was ich gerne teilen möchte. So werden wir im Kapitel 4 gemeinsam ins Silicon Valley (USA), nach Seoul (Südkorea), Tel Aviv (Israel) und Kapstadt (Südafrika) reisen und einen Blick darauf werfen, wie dort der digitale Wandel gestaltet wird.

Außerdem werden wir in fünf Gestaltungsfelder eintauchen, in denen ich in den vergangenen Jahren viel geforscht habe und Erfahrungen sammeln konnte: Arbeit, Freizeit, Bildung, Gesundheit und Mobilität. Mit belastbaren Daten will ich Ihnen Mut machen, sich für Ihren Bereich selbst Gedanken zu machen.

Lassen Sie uns einen »Weltbürger«-Blick auf die mögliche Zukunft Deutschlands werfen. Die Digitalisierung bietet eine Menge Potenzial für Wohlstand in der Nation – ja, und es gibt viel zu tun, um diese Bewegung wieder mit anführen zu können. Es braucht die Haltung, dass wir es schaffen können, ebenso wie die notwendigen Bedingungen und Lösungsansätze. Für jeden Einzelnen, egal in welcher Rolle, und für die Gesellschaft im Ganzen.

Rückblick

Seit 30 Jahren beschäftigt mich die digitale Welt. An der Uni interessierte mich die Wirtschaftsinformatik als verbindende Disziplin zwischen der realen und der digitalen Welt. Wir lernten, Probleme aus der physischen Welt, speziell der Wirtschaft, in Bits und Bytes, also die Sprache der Computer zu übersetzen.

Maschinen, insbesondere Computer und wie sie funktionieren, haben mich schon früh fasziniert. Vielleicht liegt das daran, wie ich groß wurde: Mein Vater zerlegte als Elektrotechniker zu Hause immer alles, wenn es kaputt war. Mit Vorliebe die Dinge, die über (mindestens) ein Kabel verfügten. Der Duft von Lötzinn lag bei uns quasi immer in der Luft.

Dabei bin ich Späteinsteiger. Kein Atari oder Commodore aus den Anfängen der 80er-Jahre war mein erster Computer, sondern 1989, mit damals 19 Jahren, ein 286er-PC. Meine Freundin erzählt mir heute noch die Geschichte, wie ich ihn zu Beginn am liebsten aus dem Fenster geschmissen hätte, weil er nicht das tat, was ich wollte. Schon damals musste man erst lernen, wie diese Geräte auf den Menschen hören, die digitalen Maschinen stellten sich nicht auf den Menschen ein. Wir werden uns hier mit der Frage auseinandersetzen, wie weit wir heute, 30 Jahre später, sind und wie es wohl in weiteren 30 Jahren aussehen wird.

Meine zweite Mission ist das Marketing, also die »konsequente Ausrichtung« eines »Unternehmens an den Bedürfnissen des Marktes«3: Wie genau bringe ich erfolgreich eine Idee rüber? Wie muss ein neues Produkt gestaltet sein und wie beziehe ich die Zielgruppe ein?

Im sogenannten Marktforschungspraktikum meines Studiengangs waren wir ganz praktisch eingebunden und befragten für den belgischen Rundfunk Hörer. Also stand ich mit einigen Mitstudenten einige Tage auf belgischen Straßen und in Fußgängerzonen, um »die Stimme des Volkes« methodisch fundiert zu ergründen. Diese Übung ließ mich zwangsläufig mit anderen Augen durch die Welt gehen und für alle Zeit den Menschen in den Fokus nehmen.

Die Kombination der beiden Studienfächer war sehr selten – und sorgte für Belustigung. Denn meine Studienkollegen im Marketing befanden die (Wirtschafts-)Informatiker als eigenartig: »Da hat man doch Quadrataugen, wenn man den ganzen Tag auf einen Rechner starrt«, hieß es. Die Computerfans wiederum fanden, dass das Marketing »stets auf blauen Wolken schwebt und sich neue Geschichten ausdenkt«. Beide hatten vermutlich ein wenig recht. Ich jedenfalls fühle mich bis heute in beiden Disziplinen zu Hause und schaue aus beiden Perspektiven auf die digitalen Möglichkeiten.

Ich war, eher zufällig, dabei, als das Internet 1995 seine ersten Schritte in Richtung Wirtschaft ging, nämlich bei der Entstehung des WWW – World Wide Web, wie es damals noch ausführlich benannt wurde. Was heute schlicht »Internet« heißt, war damals ein Novum in der Wirtschaftswelt. Tim Berners Lee hatte im Jahr 1992 am Schweizer CERN die neue Sprache HTML (Hypertext Markup Language) erfunden, die Inhalte mit Hyperlinks auf elegante Weise miteinander verbinden sollte. Was an den Unis gleich experimentell eingesetzt wurde, gelangte kurz darauf in die Wirtschaftswelt.

In einem interdisziplinären Studentenprojekt durfte ich den ersten kommerziellen Webserver in Aachen mitprogrammieren. Die Fachpresse besprach ihn damals als einen der ersten dreißig (!) Webserver in Deutschland. Damit war ich früh mit dem Medium verbunden, das kurz darauf die gesamte (Wirtschafts-)Welt auf den Kopf stellen sollte. Es ließ mich seitdem nicht mehr los.

Ein besonderes Erlebnis war mein zweiter Aufenthalt in den USA. Ich hatte früher einige Monate in New York State gelebt und zog zum Ende des Studiums nach Arlington bei Washington D.C. Für meine Abschlussarbeit fand ich einen Experten für »Computational Statistics« als Sparringpartner: Professor Edward Wegman4 eröffnete mir schon im Jahr 1996 eine Zukunftswelt, nämlich die zu virtuellen Realitäten.

So forschte ich zunächst wissenschaftlich und später in der eigenen Unternehmerpraxis an Zukunftsthemen. Zu den vielen Abschlussarbeiten, die ich in den 90ern betreute, gehörten schon der intelligente Kühlschrank und Mülleimer. Wie viele Kühlschränke bestellen heute selbst Milch nach, wenn sie zur Neige geht, und wie viele Mülleimer in den Haushalten sortieren heute, 25 Jahre später, selbstständig den Müll? So gut wie keine. Was muss also passieren, dass diese oder andere Digitaltechnologien in unsere Haushalte einziehen?

Ich bin überzeugt, dass es vor allem eines braucht: den Blick auf die Perspektive der Nutzer und Nachfrager zu richten und weniger auf die Technologie selbst. Es ist meine Motivation für dieses Buch, Ihnen – seien Sie Verbraucher oder Entscheider – exakt diesen Fokus zu vermitteln. Wie viele Ressourcen könnten wir sparen, wie viel Zeit und Geld besser einsetzen, wenn wir dieses einfache Prinzip leben würden?

Kürzlich spazierte ich durch Bremen und entdeckte ihn in der Fußgängerzone: den intelligenten Mülleimer. Solarzellenbestückt und leider schon ziemlich dreckig, erzählte er seine Geschichte, oder besser gesagt, seine Funktionen. Und die beeindruckten mich. Denn dieser Mülleimer im öffentlichen Raum presst den Müll besonders klein und meldet der zuständigen Behörde, wenn er geleert werden muss. So ein autarkes kleines Ding im Bremer Stadtgeschehen erfüllt seinen Zweck auf smarte Weise. Wenn er sowohl für ein sauberes Stadtbild sorgt als auch die Gebühren für die Bremer reduziert, bin ich sicher, dass es ihn nachhaltig geben wird, bringt er doch einen relevanten Nutzen.

Die Frage ist: Wie schaffen wir es, vom Problemdenken rund um die Digitalisierung zu einer Lösungsorientierung zu kommen? Ohne Probleme wegzudiskutieren, sondern ihnen stattdessen mit einer Halbvoll-Haltung und Lösungsansätzen zu begegnen?

Mehr als 20 Jahre beschäftige ich mich nun mit der Unterstützung neuer Produkte und Services. Eines ist dabei besonders wichtig: Um zukünftige Innovationen auf ihren Weg in den Markt zu bringen, setze ich bewusst früh an. Einige Unternehmen kommen bereits mit ersten Ideen, aus denen Produkte entstehen sollen, vor anderen liegt ein weißes Blatt, sie wollen mit uns etwas gänzlich Neues schaffen. In allen Fällen aber liegt unser Blick gleich zu Beginn gezielt auf den Bedürfnissen der Nutzer.

Was macht ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung erfolgreich? Innerhalb von zwei Jahrzehnten konnte ich mit meinem Unternehmen sieben Millionen Online-Interviews durchführen und damit insgesamt 8000 Produkten oder Services helfen. In der Online-Befragung stellen wir typischerweise die Idee als Text und Bild vor, sodass potenzielle Kunden beurteilen können, wie gut die Idee allgemein gefällt, wie neu und andersartig sie ist und ob man das Produkt oder den Service – unabhängig vom Preis – kaufen würde. Diese Interviews führen wir weltweit online und in allen Branchen durch, vom Schokoriegel über das Erkältungsmittel bis hin zum Elektroauto.

Mitmachen: Wenn Sie jetzt Lust bekommen haben, an Umfragen teilzunehmen, dann können Sie sich hier melden: www.dialego.de/zukunft.

Sie können sich vorstellen, dass uns inzwischen ein richtig großer Datenschatz vorliegt, der die Frage beantworten kann: Was macht eine neue Idee erfolgreich? Welches Muster finden wir? Wann probieren Menschen ein neues Produkt? Denn wir müssen etwas Neues, ein Produkt oder einen Service, ein erstes Mal ausprobieren, um dauerhaft Kunde zu werden und es damit erfolgreich zu machen. Wie wir uns auf diese Weise dem Menschen zuwenden, werden wir in Kapitel 3 und 4 genauer betrachten. Zunächst einmal möchte ich mit Ihnen ganz allgemein in die Lösungssuche einsteigen.

1 Lösungen statt Probleme

Den besten Rat erhielt ich von einem sehr erfahrenen Begleiter meines beruflichen Lebens. Er hatte schon einige Unternehmen geführt und stand mir auch in seiner nicht mehr aktiven Berufslaufbahn noch viele Jahre zur Seite. Sein Rat lautete:

Bitte die Menschen, mit Lösungsansätzen zu dir zu kommen statt mit Problemen.

Dieser Rat ist simpel wie wirkungsvoll zugleich, und zwar im Privatwie im Berufsleben. Ich hörte einfach auf, Probleme zu diskutieren. Ich gebe zu, das war kein Schalter, den ich einfach umlegen konnte, sondern ein Lernprozess. Aber seitdem führe ich jedes, wirklich jedes Gespräch rund um eine Herausforderung nur zu Lösungsansätzen. Diskussionen wie »Das Problem ist« und »Wir müssten mal« stoppe ich sofort. Sie glauben gar nicht, wie viel Lebenszeit Ihnen dieser simple Rat schenken kann. Probieren Sie es!

Lassen Sie uns also auch im Folgenden mehr über die Lösungen sprechen als über die Probleme. Denn das macht schon einen großen Unterschied. Vielleicht haben Sie bereits den einen oder anderen Ratgeber in Sachen Digitalisierung gelesen. Es gibt dicke Schmöker, die zwar Probleme aufgreifen, aber keinerlei Lösungsansatz liefern. Mein Manifest hat genau das Gegenteil im Sinn: Sie zu motivieren, tagtäglich in Lösungen statt Problemen zu denken.

Unser Ziel sollte sein, die Zukunft heute schon enkeltauglich zu gestalten. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir uns die Zukunft vorstellen und wie wir sie selbst gestalten wollen. Jetzt mögen Sie vielleicht sagen: »Na ja, die hat gut reden. Arbeitet in der IT, versteht, was sich genau hinter dem Begriff ›Digitalisierung‹ verbirgt, und kann sicher programmieren.« Dabei geht es mir weniger darum, dass jeder programmieren kann, aber dazu kommen wir noch. Vielmehr ist der erste Schritt, die Gestalterrolle anzunehmen. Meinen Kindern gebe ich gerne mit:

Egal ob du denkst, du schaffst es, oder ob du denkst, du schaffst es nicht – du hast in jedem Fall recht!

Henry Ford

Das gilt bei den Kindern für den Sprung vom 3-Meter-Brett genauso wie fürs Kochenlernen.

Genauso stelle ich mir die gemeinsame Haltung positiv vor. Ja, wir können es schaffen. Wir brauchen eine Vision, wie genau wir uns diese Zukunft vorstellen, und müssen selbst die Schritte gehen, sie umzusetzen. Wie werden wir arbeiten? Welche Bildung wird notwendig sein? Wie steht es um Kunst und Kultur im digitalen Zeitalter? Wie nutzen wir die Digitalisierung, um gesünder oder auch länger gesund zu leben? Wie bewegen wir uns fort und wie schützen wir unsere Umwelt? Diese Fragen betreffen unser tägliches Leben heute sowie das unserer Enkelkinder in der Zukunft.

Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für die Welt.

Mahatma Ghandi

Lassen Sie uns groß denken. Wie etwa kann die Digitalisierung helfen, nachhaltig eine bessere Welt zu entwickeln? Die Global Goals, also die weltweiten Ziele, werfen die Frage auf, wie wir ein Leben ohne Armut, Hunger oder etwa Krankheit in allen Teilen der Welt sicherstellen können. Erste Ansätze gibt es: So liefert DHL bspw. mit Drohnen Medikamente in entlegene Gebiete Afrikas.5

Global Goals: Im Jahr 2015 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs 17 Ziele für eine bessere Welt bis 2030. Diese Ziele haben die Kraft, Armut zu beenden, Ungleichheit zu bekämpfen und den Klimawandel zu stoppen. Geleitet von den Zielen ist es nun an uns allen – Regierungen, Unternehmen, Zivilgesellschaft und öffentlichkeit –, gemeinsam daran zu arbeiten, eine bessere Zukunft für alle aufzubauen.6

Wenn wir fest davon ausgehen, dass der Roboter, die Maschine oder der Computer uns in Zukunft ersetzen und wir dies quasi als Schicksal hinnehmen, ist dies so ziemlich das Gegenteil davon, sich selbst aktiv für eine positive Zukunftsprognose einzusetzen.

Und während beim Thema Erderwärmung der Einzelne vielleicht noch sagen mag »Das geht mich nichts an« oder »Mein kleiner Beitrag macht doch keinen Unterschied«, weil man es im Täglichen vielleicht nicht spürt, wenn etwa Eisplatten am Nordpol schmelzen, so dürfte sich in Sachen Digitalisierung jeder Einzelne angesprochen fühlen. Schließlich nimmt inzwischen jeder die veränderte Lebenswirklichkeit wahr. Sehr deutlich etwa beim Smartphone, das bei inzwischen acht von zehn Menschen fest im Alltag verankert ist. Dabei ist sein Prototyp, das erste iPhone, erst seit 2007 auf dem Markt.

Ich meine, dass der Mensch auch in Zukunft im Mittelpunkt stehen wird – und dass wir selbst dafür sorgen müssen. Als Menschen. Für Menschen. Mit digitalen »Hilfs«mitteln.

»Halb voll« in diesem Buch

Diese Reise, auf die ich Sie mitnehmen möchte, soll lebendig sein und Ihnen vor allem als Wegweiser dienen, den Sie gleich im Alltag nutzen können. Und so will ich in diesem Buch gedanklich Stationen durchwandern und am Zielpunkt unserer Reise immer zu einer Halbvoll-Haltung gelangen. Einem Aussichtspunkt, von dem aus Sie den Überblick haben oder zumindest eine neue Perspektive. Dabei will ich Sie einladen, bewusst in den Perspektivwechsel einzutauchen, der sich bietet.

»Aussichtspunkt« beschreibt es sehr schön, denn von dort sitzen Sie erhöht und können die Lage überblicken. Wer Herr der Lage ist, fühlt sich gleich besser. Nicht hilflos zusehen müssen mit der Gefahr, den Überblick darüber zu verlieren, was um einen herum passiert, sondern agieren können. In Selbstwirksamkeit kommen, nennen es die Kognitionspsychologen: Überzeugt sein, dass man es schaffen kann, wie schwer auch immer die Aufgabe sein mag, die vor einem liegt. So gehen wir Dinge an, und Herausforderungen lassen sich aus eigener Kraft erfolgreich lösen. Dazu müssen wir selbst die Erfahrung gemacht haben, etwas aus eigener Kraft schaffen zu können.7

Einige Lösungsansätze für mehr Selbstwirksamkeit im Digitalen bringt dieses Buch mit. Insbesondere im Kapitel 4: Bildung werde ich mich damit beschäftigen, wie wir uns die wichtigen Kompetenzen aneignen, über die wir zukünftig verfügen sollten. Wenn Computer sämtliches Faktenwissen speichern und jederzeit für uns abrufbar bereithalten, werden Soft Skills wichtiger als Hard Skills. Zur Frage, was dies für Auswirkungen auf unsere Arbeit haben wird, gibt es ein eigenes Kapitel 4: Arbeit.

»Halb voll« heißt nicht, dass automatisch alles super läuft. An einigen Stellen werde ich auf kritische Punkte bei der Entwicklung der Digitalisierung und dem Umgang mit digitalen Medien hinweisen. Technologie um der Technologie willen ist ein schlechter Berater, wie ich meine. Aber noch konkreter werden wir im Kapitel 3 sehen, wann etwas Neues – sei es Technologie oder nicht – überhaupt erfolgreich sein kann. Dort erkläre ich die 4W-Formel, die ich seit einigen Jahren in der Praxis anwende.

Insgesamt täte es uns gut, viel mehr in Diskurs zu gehen über »gute und schlechte« Digitalisierung. Und über Werte und Ethik, die als Grundlage wie ein ungeschriebenes Gesetz gelten müssten. Hierzu finden Sie mehr im Kapitel 3: Ethik.

Der gesunde Menschenverstand

Auch wenn das Digitale fremdes Terrain für Sie sein sollte, will ich Sie ermutigen, einen Urinstinkt auszupacken: Ihren gesunden Menschenverstand.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Methoden der Marktforschung habe ich in all den Jahren von der Pike auf gelernt, hinterfragt und weiterentwickelt. Dazu gehört, wie man Umfragen plant, durchführt und analysiert. Vor allem die Validität, also die Gültigkeit von Ergebnissen, ist seit jeher ein wichtiger Faktor in meiner täglichen Arbeit. Die Frage, die mich ständig begleitet, lautet: Können die Ergebnisse richtig sein?

Mit meiner Firma Dialego führen wir für Unternehmen Hunderte, manchmal Tausende von Interviews durch und analysieren diese (übrigens immer anonym). Heraus kommt dann bspw., wie die Menschen zur Digitalisierung stehen. Ein Ergebnis: Im Jahr 2018 sagten die wenigsten, dass sie »sehr offen« (nur 18 %) der Digitalisierung gegenüberstehen, die meisten Menschen waren »eher offen« oder »unentschieden«. Das finde ich plausibel. Mein GMV – gesunder Menschenverstand – sagt: »Das kann gut stimmen«, also veröffentliche ich diese Zahlen auch guten Gewissens. Natürlich muss hinter einer solchen wissenschaftlichen Studie mehr stehen als »nur ein Gefühl«. Die Methodik muss stimmen, die Stichprobe, das Auswertungsverfahren etc. Kunden, die uns beauftragen, vertrauen mir und meinem Team, dass wir das ordentlich umsetzen, und dieses Vertrauen nehme ich sehr ernst.

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Wie stehen Sie zur Digitalisierung?

Nichtsdestotrotz spielt der Faktor Mensch eine wesentliche Rolle. Der darf sein Gehirn nutzen und im Kontext seiner Erfahrungen und seines Wissens kritisch auf solche Zahlen schauen. So tue ich es auch bei den eigenen Ergebnissen, selbst wenn ich überzeugt bin, dass die Methode der Untersuchung gut und richtig ist.

Über die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen wird täglich unser gesunder Menschenverstand geschärft. Er lernt übrigens besser als jede Maschine, womit wir uns noch weiter auseinandersetzen werden. Setzen wir ihn also ein. Neuroplastizität nennen Gehirnwissenschaftler die Fähigkeit des Gehirns, mit jeder neuen Erfahrung, die wir machen, neue Verbindungen auszuprägen. Sie ist damit besonders wichtig für uns Menschen.

Wenn der GMV Alarm schlägt

In Zeiten des digitalen Wandels erhöhen sich nicht nur Geschwindigkeit und Taktzahl innerhalb von Unternehmen, sondern gerade auch bei denen, die Nachrichten für Fernsehen, Zeitungen oder digitale Kanäle »produzieren«. Dort werden gerne Studien zitiert, um einer Nachricht mehr Gewicht oder ein Fundament zu geben. Manches Mal aber leider nicht mit wissenschaftlich fundierten Methoden, stattdessen gaukelt man vor, »diese 1000 Interviews sind repräsentativ«. Ich will Sie nicht mit Methodik langweilen, aber mir ist wichtig, dass Sie erkennen, welchen Zahlen Sie trauen können und welchen nicht. Schließlich wollen Sie sich ja ein Bild machen und auf eine Information vertrauen können. Wenn Sie Haltung zeigen, dann auch wohlinformiert.

Aus dem Unternehmensalltag eines Marktforschers kann ich sagen, dass es Anfragen gibt, die lauten: »Hauptsache, Sie liefern 1000 Interviews oder mehr. Dann ist es repräsentativ.« Genau das ist Quatsch, und ich erkläre Ihnen, warum.

Ein einfaches Beispiel, bei dem Sie vermutlich die Alarmglocken läuten hören: Stellen Sie sich vor, Sie sollen herausfinden, wie viel Wert die Deutschen ganz allgemein auf Biolebensmittel legen. Sie stellen sich an einem Samstagmorgen vor einen Biomarkt im Ort und fragen dort 30 Menschen, wie sie es mit dem Einkauf von Biolebensmitteln halten. Am Abend führen Sie die gleiche Umfrage vor dem Multiplex-Kino Ihrer Wahl durch und erreichen weitere 30 Personen. Am Sonntag setzen Sie sich in Ruhe hin, nehmen sich Ihre Interviews vor, werten die Antworten aus (wie oft wurde welche Antwort gewählt?) und vergleichen die beiden Gruppen, also Biomarkt- und Kinogänger. Was vermuten Sie? Was kommt raus? Ticken beide Gruppen gleich? Vermutlich nicht. In der Gruppe der Biomarktkäufer erhalten Sie vermutlich 100 % Zustimmung, wenn es um die Wichtigkeit von Biokost geht. Vor dem Kino wird der Wert deutlich niedriger liegen. Angenommen, Sie erwischen vor allem studentische Befragte, werden diese möglicherweise urteilen, dass sie aus Kostengründen eher zu konventionellen Produkten greifen. Welche Antworten sind nun »richtig«? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten: Die Stichproben waren nicht ausgewogen und nicht geeignet, etwa eine Aussage über alle Deutschen zu treffen, schließlich sind Sie allein durch die Ortswahl Ihrer Interviews jeweils auf spezielle Zielgruppen getroffen. Im Kapitel 2 werden wir darauf etwas genauer schauen.

Mit diesem einfachen Beispiel will ich Sie motivieren, Ihren gesunden Menschenverstand einzuschalten, wenn Sie solche Ergebnisse sehen. Lesen Sie nicht nur die Titelzeile. »Biolebensmittel total angesagt« könnte die Überschrift lauten, wenn ein Artikel über Biokäufer geschrieben wird. Es nützt übrigens wenig, wenn Sie Ihre Freizeit so lange vor dem Biomarkt verbringen, bis Sie 1000 Interviews oder gar 10 000 Interviews durchgeführt haben. Das Ergebnis passt immer noch nur für die Biokäufer. Daraus eine Aussage über die gesamte Bevölkerung abzuleiten wäre schlichtweg falsch. Daran ändert eine große Zahl Befragter gar nichts, sondern nur eine ausgewogene und kontrollierte Rekrutierung der Teilnehmer.

Lesen Sie also weiter, wenn Sie eine Überschrift sehen. Schauen Sie sich an, was im Detail berichtet wird. Wenn eine Studie zitiert wird, hinterfragen Sie diese kritisch. Eine gute Berichterstattung wird Auskunft darüber geben, wie befragt wurde und wie viele Menschen dahinterstehen. Jeder gute Journalist wird kritisch hinterfragen. Sollten Sie journalistisch tätig sein, dann lassen Sie sich nicht vom Druck im Hamsterrad und der Größe einer Stichprobe leiten, sondern überlegen Sie, was Sie veröffentlichen. Schließlich steht Ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel,8 auch wenn wir in Zeiten des Wandels und hohen Drucks sehen, dass reißerische Meldungen sich besser verkaufen mögen.

Aber was heißt das nun? Ich meine, Sie sollten Haltung einnehmen. Aus Ihrer Rolle und Verantwortung heraus, sei es als Mutter oder Vater, Arbeitnehmer, Manager, Lehrer, Pfleger, Freund … Seien Sie ehrlich mit sich selbst und fragen Sie sich: Kann das sein? Nehmen Sie sich die Zeit, gründlich zu lesen. Haben Sie diese nicht, dann verbreiten Sie bitte keine Meldung. Vergegenwärtigen Sie sich, dass Ihr Gegenüber Ihren Aussagen vertraut.

Wir werden uns im Verlauf noch mit der Bedeutung von Marken, bspw. als Absender eines Produkts oder einer Dienstleistung, beschäftigen. Allgemein betrachtet ist jeder Einzelne eine »Marke«, ebenso wie Institutionen. Warum es in Zeiten digital schnell verbreiteter (Falsch-) Meldungen so wichtig ist, sich selbst treu zu bleiben und die eigene Glaubwürdigkeit und Integrität zu wahren, lesen Sie im folgenden Beispiel.

Wie eine hochintegre Institution zweifelhafte Statistiken verbreitet

Während ich dieses Buch schrieb, veröffentlichte das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie das Ergebnis einer Studie auf Twitter: 25 % der Deutschen können in wenigen Worten erklären, was künstliche Intelligenz (KI) bedeutet. Darunter noch ein lustiges Interaktionselement: eine Umfrage. Twitter ist ein 2006 gestarteter Social-Media-Kanal, auf dem mit 1,8 Millionen deutschsprachigen Nutzerkonten vergleichsweise wenige Nutzer aktiv sind. Sie treffen hier überwiegend »Fachpublikum« wie Journalisten, Politiker und Experten ihres Fachs.

Zurück zur Umfrage auf Twitter. Sie ahnen es schon: Wir haben hier den Biomarkteffekt. Ganze 93 % der 43 Teilnehmer auf Twitter (ich war eine davon) können KI erklären. Nur drei verneinten. Mein GMV sagte bei den 93 % »Ja, das passt«, ist Twitter doch ein Medium, in dem sich fast ausschließlich technologieaffine Menschen tummeln. Und wer sich für die Nachrichten eines Wirtschaftsministeriums interessiert, ist wohl erst recht im Thema.

Aber 25 % der Deutschen? Mein GMV schlug Alarm. Wäre der Absender irgendein Klatschblatt gewesen, hätte ich drüber hinweggelesen, weil ich schon diesen Absender nicht ernst nehme (Thema Marke! Dazu weiter unten mehr). Aber das Bundeswirtschaftsministerium? Dort, wo ich seit einigen Jahren und sehr gerne eine Beiratsrolle wahrnehme und Hinweise geben soll, wie das Digitale zu gestalten ist? Da fühle ich mich aufgefordert, Haltung einzunehmen. Ich muckte auf und antwortete auf den Tweet, dass ich Zweifel an der Richtigkeit der 25 % habe. Ich schätze diese Zahl – aus meiner Erfahrung und Studien heraus – deutlich niedriger ein. Zwar erhielt ich keine Antwort des BMWi, aus dem Lobbyumfeld aber erreichte mich eine scharf formulierte private Nachricht. Und was glauben Sie, was darin stand? Wie ich es mir erlauben könnte, eine Aussage des BMWi in Zweifel zu ziehen! Meine Antwort: Gerade weil ich mich in dem Feld auskenne, finde ich es wichtig, Haltung einzunehmen.

Genau das ist entscheidend: Lassen Sie uns in Diskurs gehen, statt blind zu vertrauen. Am Diskurs wachsen wir alle und lernen aus der Erfahrung und im Kontext mit anderen. Dazu gehört auch, etwas aushalten zu können. Im blinden Vertrauen jedoch bleiben wir passiv, wachsen nicht in die Gestalterrolle und fügen der Diskussion keine eigenen Akzente hinzu. Also: Statt einfach im Schwarm mitzuschwimmen, drücken Sie die eigene Haltung oder Überzeugung aus dem gesunden Menschenverstand offen aus, auch wenn mit Widerstand zu rechnen ist. Resilienz nennen die Psychologen diese Widerstandskraft. Was dazu beitragen kann, diesen wichtigen Soft Skill zu schulen, sehen wir im Kapitel 4: Bildung.

Zum Diskurs gehören Argumente und Gegenargumente, die uns oder unser Gegenüber auch überzeugen können. Es gehört Mut dazu, Fehler und Fehleinschätzungen zu korrigieren oder zu kommentieren. Als schädlich dagegen stufe ich Passivität ein – die »Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen«-Haltung der berühmten drei Affen, wie ich sie zunehmend wahrnehme. Und zwar immer dann, wenn die Themen besonders kompliziert werden, wie etwa beim Thema Daten.

Lassen Sie uns aufstehen und den Diskurs starten. Aus gesundem Menschenverstand. Das wäre ein wunderbarer Beginn der »halb vollen« Sichtweise auf die Welt.

Mensch und Maschine

Stärken entfalten

Die »Halb voll«-Haltung kann uns helfen, in jeder Situation auf die Stärken und Potenziale zu blicken statt auf die Schwächen. Der Neurobiologe und Bestsellerautor Gerald Hüther nennt es Potenzialentfaltung und beschreibt, dass wir mit Kreativität und Begeisterung statt Stress und Leistungsdruck das entfalten, was in uns steckt.9 Die Neuroplastizität, also Weiterentwicklung unseres Gehirnnetzwerks, geschieht nur, wenn wir etwas mit Begeisterung tun. So liegt es mir am Herzen, Begeisterungsfähigkeit für diese neue digitale Welt zu schaffen. Wer in Zeiten des digitalen Wandels zum Gestalter wird und die eigenen Stärken entfaltet, kann vom Wandel nicht überrollt werden.

Der Beginn dazu ist Neugier. Beeindruckende Beispiele für Neugier begegneten mir in den USA, wo ich zwei Mal gelebt habe. Das erste Mal flog ich gleich nach dem Abitur rüber, um für einige Wochen bei einer Familie zu leben. Schon im Auto vom Flughafen nach Hause wurde klar, dass ich in einer mir noch sehr fremden Kultur gelandet war. Ich wurde auf lockere Art und Weise über dies und jenes befragt und empfand das als echte Neugier auf die Person, die nun bei ihnen einzog. Jetzt kann man sagen, wer einige Wochen oder Monate den Haushalt teilt, interessiert sich wohl besser für seine neue Mitbewohnerin. Sicher stelle ich die amerikanische Kultur hier sehr vereinfacht dar, aber belassen wir es an dieser Stelle bei diesem für mich bleibenden Eindruck: Während meiner mehrmonatigen Aufenthalte in Familien gewann ich das Gefühl, dass die Kultur Neugier ausstrahlte. Neugier auf das, was da kommen mag. Wissen, dass man etwas selbst entdecken kann und muss. Eine Art Christoph-Kolumbus-Mentalität, die Welt (neu) zu entdecken. Und diese Neugier steckte mich an.

Einfach mal herausfinden, was hinter einer Haltung oder Handlung steckt, was den anderen antreibt und bewegt – ein Grund, warum ich mich im weiteren Verlauf meiner Laufbahn für die Marktforschung entschied und somit dafür, den Dingen auf den Grund zu gehen, den Menschen wirklich zu verstehen und dann in seinem Sinne zu handeln.

Wie wäre es also, wenn wir dem Menschen zugewandt grundsätzlich auf die Potenziale schauen statt auf die Defizite? Wenn wir betrachten, was den Menschen wirklich ausmacht, und ihn darin fördern, worin er stark ist? Denn wenn wir weiter alle gleich behandeln, betrachten wir den Menschen wie eine Maschine. Die macht alles gleich, kann aber auch nur Bekanntes verarbeiten. Nur das, was sie gelernt hat. Von »Natur« aus, eben weil sie keine Natur ist, sondern programmiert wird mit dem, was sie tun soll. Nicht umsonst gibt es ganze Forschungsfelder, wie etwa die Bionik, bei der die Maschine von der Natur lernen soll. Aber auch dies bedeutet lediglich nachzuahmen, was die Natur selbstständig hinbekommt. Während die Natur sich selbst weiterentwickelt, bleibt die Maschine in ihrem Imitationsmodus stecken. Allein die neurobiologische Erkenntnis, dass Kreativität und Begeisterungsfähigkeit neue Verbindungen im Gehirn des Menschen herstellen, lässt erahnen, dass dies maschinell unmöglich ist.

Bionik: Wissenschaft, die technische, besonders elektronische Probleme nach dem Vorbild biologischer Funktionen zu lösen versucht. (Duden online)

Wir verkennen den großen Unterschied zwischen Mensch und Maschine, wenn wir nicht endlich umdenken, beide grundlegend anders behandeln und deutlich machen, dass uns der Unterschied sehr wohl bewusst ist. Das kommt mir oftmals zu kurz.

Dabei will ich Sie ermuntern, nach Lösungen zu suchen, wie Mensch und Maschine nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten. Eine Lieblingsserie meiner Kinder ist »Miraculous«.10 SuperheldenFilme wie »Superman« u. Ä. erlangen seit Jahrzehnten zuverlässig Weltruhm. Sie handeln davon, wie der Mensch Superkräfte erhält und so die Welt rettet. So ähnlich, mit weniger Fiktion, stelle ich mir die Zukunft vor, wie wir sie prägen. Auch in der Digitalisierung gewinnt der Mensch, mit digitalen Superkräften, die uns nicht schwächen, sondern die wir als Stärke zu nutzen wissen.

Das Wesen des Menschen

Bedenke, dass die menschlichen Verhältnisse insgesamt unbeständig sind, dann wirst du im Glück nicht zu fröhlich und im Unglück nicht zu traurig sein.

Sokrates (469 – 399 v. Chr.)

Was macht den Menschen aus und was die Maschine? Ich will aus der Perspektive der Wirtschaftsinformatikerin erzählen, die im Hinterkopf immer gleich die Realität in Programmlogik übersetzt. Die Wirtschaftsinformatik ist einerseits ein Brückenbauer, und zwar wortwörtlich zwischen (jedem vorstellbaren Zweig) der realen und der Wirtschaftswelt und der Informatik oder Computerwelt. Andererseits ist sie Übersetzer zwischen der neuen digitalen Sphäre, den IT-Experten und allen anderen Lebensbereichen. Denn unser Leben ist bereits durchzogen von digitalen Elementen. Sei es das Theaterticket, das ich per App kaufe, oder der Urlaubsantrag, den ich online einreiche. Auch Maschinen, die ich vielleicht heute noch selbst steuere, werden zunehmend miteinander kommunizieren.

Mich interessiert hier aber das zutiefst Menschliche in unserer Welt. Das Menschliche, das uns täglich begleitet und sich durch eine digitalisierte Welt mehr und mehr herausgedrängt fühlt. Ich möchte ergründen und beweisen, warum der Mensch wichtiger ist als die Maschine. Und warum das auch so bleiben wird, sodass jeder einzelne Mensch dem digitalen Wandel mit mehr Selbstbewusstsein begegnen kann.