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STEPHANIE BORGERT

Die kranke
Organisation

Diagnosen und Behandlungsansätze
für Unternehmen in Zeiten
der Transformation

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-900-6

ISBN epub: 978-3-95623-830-7

Lektorat: Anke Schild, Hamburg

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorenfoto: Jan Hillnhütter, Schifferstadt

Illustrationen: Sandra Schulze, Heidelberg

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

© 2019 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2019 erschienenen Buchtitel "Die kranke Organistaion" von Stephanie Borgert, ©2019 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

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Inhalt

Beipackzettel

Führungsschizophrenie

Starrsinn – ein Paradoxon

Kontrollzwang

Besprechungsdiarrhö

Medikamentenmissbrauch

Zwanghafte Methodengläubigkeit

Multiple Sprach- und Sprechstörungen

Zweckentfremdung

Verknöcherte Organisationsstruktur

Machthysterie

Vorsorge

Literaturempfehlungen

Stichwortverzeichnis

Über die Autorin

Die eigentliche Frage ist nicht, ob Maschinen denken können, sondern ob Menschen es tun.

B.F. SKINNER

Beipackzettel

»Das ist doch krank, was wir hier machen«, ruft ein Manager sichtlich aufgebracht in die Runde. Seit anderthalb Tagen diskutiert der Führungskreis nun über die Strategie, deren Sinn und die Umsetzung. Dabei kommen natürlich alle möglichen Themen auf den Tisch. Verfehlte Zielvorgaben, demotivierte Mitarbeitende, der starke Wettbewerb, die Bürokratie, unpassende Prozessvorgaben, und, und, und. In dem Moment, in dem ich dem Manager innerlich zustimme, ist die Idee für dieses Buch geboren. Ja, unsere Organisationen leiden unter vielen Krankheiten, oft unter mehreren gleichzeitig. Und dabei kann das Unternehmen wirtschaftlich durchaus gesund sein.

Nicht die einzelnen Menschen sind krank, sondern die Organisation als System

Vieles läuft schief, Probleme lösen sich nicht auf, sondern treten in regelmäßigen Abständen immer wieder zutage, die Mitarbeitenden maulen. Das ist alles nicht neu und wird täglich in Artikeln, Kolumnen und Büchern beschrieben, denken Sie womöglich jetzt. Stimmt – doch was mich dabei kolossal stört, ist, dass die Krankheiten dort auf die Menschen projiziert werden, gerade so, als würden einzelne von einem ominösen Virus Befallene ganze Organisationen infizieren. Es sind nicht die einzelnen Menschen krank, es ist die Organisation als System. Das ist ein riesiger Unterschied in der Betrachtungsweise.

Den Führungskreis begleite ich über die zweitägige Tagung, und ich stelle mal wieder fest, dass ich einen tollen Beruf habe. Die verschiedensten Unternehmen kennenlernen und aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachten zu dürfen, ist einfach spannend. Als Rednerin und Organisationsberaterin bekomme ich ganz unterschiedliche Sichten präsentiert, auch abhängig davon, wer mein direkter Auftraggeber ist. Es macht einen Unterschied, ob mein Einstieg über den Personalbereich, eine Fachabteilung oder die Geschäftsführung stattfindet. Was hingegen deutlich weniger Unterschied macht, als meine Auftraggeber oft glauben, ist die Branche, in der sie wirken. Ob Triebwerkhersteller, Versicherungsunternehmen, Klinikum, IT-Beratung oder Straßenbaukonzern, sie verbindet mehr, als sie unterscheidet.

Wie sie ticken, hängt nicht davon ab, was sie fachlich produzieren oder als Dienstleistung anbieten, sondern davon, wie sie sich organisieren. Die meisten Unternehmen glauben, sie seien sehr speziell und anders als die anderen. Meine Erfahrung zeigt mir etwas anderes. Geht es um das Verständnis von Management, Führung, das Menschenbild, die Frage nach Vertrauen, Kooperation und Zusammenarbeit, sehe ich wiederkehrende Muster. Wir unterteilen Unternehmen gerne in Kategorien wie Mittelstand, Handwerk, Industrie, internationale Konzerne, Dienstleistungsbetriebe; wir differenzieren zwischen diversifizierten und spezialisierten Firmen und was uns dazu sonst noch einfällt. Diese Kategorien verschwimmen aber auf der Ebene von Arbeitsorganisation. So wie Krankheiten bei uns Menschen keinen Unterschied machen, wen sie befallen, sind auch Organisationskrankheiten überall zu finden.

Was mich persönlich immer wieder erstaunt: Die Menschen leiden ganz eindeutig unter den krankhaften Mustern, behalten sie aber gleichzeitig bei. Es gibt ein Zuviel an Bürokratie und als Nächstes wird genau die ausgebaut. Die Menschen fühlen sich von den zu starren Prozessen eingeengt, ein Prozess-Redesign soll es richten. Mehr vom Gleichen ist das vermeintliche Gegenmittel, das flächendeckend eingesetzt wird, aber leider seine Wirkung verfehlt. Mein Anliegen ist es, die typischen krankhaften Organisationsmuster zu beschreiben und Ideen zu deren Heilung anzubieten.

Anwendungsgebiet

Viele Organisationen sind bereits erkrankt oder akut gefährdet: Kontrollzwang, Überbürokratisierung oder mangelnde Flexibilität sind weit verbreitet. Schwerfällig sind Unternehmen bei der Entscheidung zur Transformation vor allem, wenn sie wirtschaftlich gute Ergebnisse erarbeiten, denn dann lässt sich alles mit dem Argument »Wieso, es geht uns doch gut« vom Tisch wischen. Deshalb ist dieses Buch für Menschen, die in einer komplexen Welt leben und arbeiten, führen, managen, entscheiden und wirken. Denn die Art, wie »nach alter Väter Sitte« Management und Führung verstanden werden, passt nicht mehr in die Zeit, wirtschaftlicher Erfolg hin oder her. In einer komplexen, dynamischen und vernetzten Arbeitswelt provoziert altes Management dysfunktionale Organisations- und Kommunikationsmuster. So richtet sich dieses Buch an alle, die spüren, vermuten oder auch wissen, dass etwas schiefläuft, und die den Dingen auf den Grund gehen möchten. Die Betrachtungen sind dabei ganzheitlich, es wird nicht schnell auf Symptome geschaut und dann die häufigste Fehldiagnose »Der Mensch ist schuld« gestellt. Ich schaue mit Ihnen auf Organisationen als komplexe soziale Systeme und forsche nach den Ursachen hinter der Symptomatik, um nachhaltige Heilung zu ermöglichen.

Selbstverständlich möchte ich mit diesem Buch niemanden vorführen. Ich werde nicht mit dem Zeigefinger auf Unternehmen, geschweige denn auf Menschen zeigen und sagen: »Die sind zu dumm.« Was ich Ihnen anbieten möchte, ist eine Art Spiegel, sodass Sie Ihre Muster, Strukturen und Dynamiken wiedererkennen und gegebenenfalls verändern können. Wie in meiner täglichen Arbeit auch möchte ich Sie wertschätzend provozieren.

Zusammensetzung

In den folgenden Kapiteln beschreibe ich zunächst zehn funktionale Störungen und woran sie zu erkennen sind. Wenn ich über konkrete Kundensituationen schreibe, dann beschreibe ich Situationen und Dinge, die ich immer auch meinen Kunden zurückgespielt habe. Die vermeintliche Linearität, die durch das Aufschreiben entsteht, kann den Themen nicht gerecht werden, lässt sich in einem Buch aber nicht vermeiden. So ist auch eine lupenreine Zuordnung der Symptome zu den Krankheiten kaum möglich. Die Ursachen, die ich jeweils im Abschnitt »Pathogenese« beleuchte, bilden ein Netz mit wechselseitigen Wirkungen. Das, worüber ich in diesem Buch schreibe, ist eben komplex. Die Behandlungsempfehlungen sind Ideen, keine Rezepte. Ihre Wirkung ist weder vorhersagbar noch garantiert. Wir können nur versuchen, gut und passend zu intervenieren. Wie das System reagiert, wissen wir nicht im Voraus.

Jedes Kapitel ist so aufgebaut, dass nach einer Beschreibung der Krankheit diese Rubriken folgen:

image Pathogenese

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außer im Kapitel »Starrsinn«, dort gibt es eine image Salutogenese

image Behandlung

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image Wirkung

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Das Abschlusskapitel »Vorsorge« bietet Ihnen eine Reihe Denkanstöße und Werkzeuge, um Ihre Organisation zu behandeln beziehungsweise Prävention zu betreiben. Auch hierbei ist klar, dass es keine Vollständigkeit geben kann. Die Aspekte sind sehr verdichtet beschrieben und viele Themen dürfen gerne ausführlich beleuchtet werden. Sie finden in den Literaturempfehlungen zahlreiche gute Bücher, um tiefer einzutauchen.

Einnahmeempfehlung

Beginnen Sie, wo Sie möchten. Es gibt keine Notwendigkeit, das Buch chronologisch vom Anfang bis zum Ende zu lesen, auch wenn ich Ihnen das ans Herz lege. Damit ein Start an beliebiger Stelle möglich ist, wiederholen sich einige Aspekte. Ich habe mich aber darum bemüht, die Wiederholungen so gering wie möglich zu halten.

Wie bei allen Organisationskrankheiten sollten Sie den Dingen in ihrem Kontext auf den Grund gehen und die gelebten Glaubenssätze, Vorurteile und Stereotype hinterfragen. Alle Ideen und Maßnahmen, die ich Ihnen in den folgenden Kapiteln vorschlage, sind, wie gesagt, als mögliche Lösungen zu betrachten und nicht als Rezept. Und eines gilt dabei für jegliche Maßnahme, Methode und Intervention: Sie fruchten auf Dauer nur, wenn Ihre Haltungen und Sichtweisen dazu passen.

Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren gesunden Menschenverstand oder die Autorin.

Führungsschizophrenie

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Was ist Führung?

Kaum eine Rolle wurde in den letzten Jahren so intensiv diskutiert wie die der Führungskraft. Führungskräfte brauchen neue Kompetenzen, Führung muss sich neu erfinden, die soziale Kompetenz ist entscheidend, die meisten Chefs und Chefinnen sind nicht empathisch genug, es gibt zehn goldene Regeln für Führung in digitalen Zeiten, Führung muss Kultur gestalten – und so weiter. Alle sprechen über Führung, aber was ist das denn genau? Hier eine kleine Auswahl möglicher Definitionen:

»Die einzige Definition eines Führenden ist: eine Person, der andere folgen.« (PETER DRUCKER)

»Führung definiert, wie die Zukunft aussehen sollte, stimmt die Menschen auf die Vision ein und inspiriert sie, diese trotz aller Hindernisse wahr werden zu lassen.« (JOHN P. KOTTER)

»Führung: durch Interaktion vermittelte Ausrichtung des Handelns von Individuen und Gruppen auf die Verwirklichung vorgegebener Ziele; beinhaltet asymmetrische soziale Beziehungen der Über- und Unterordnung.« (GABLER WIRTSCHAFTSLEXIKON)

Legen Sie Führungskräften diese Definitionen vor, und fragen Sie sie, wo sie sich selbst sehen, antworten die meisten, ohne zu zögern: »Nummer 2.« Kotters Definition klingt gut und kommt den Erwartungen, die viele Organisationen und die Öffentlichkeit an Führung stellen, sehr nahe. Es stimmt nur leider in ganz vielen Fällen nicht und entspringt eher dem Wunsch als der Realität. Der Großteil der Führungskräfte beschäftigt sich mit Aufgabencontrolling, Menschenverwaltung, Administration, Operativem und Kontrolle. Und da beginnt die Schizophrenie. Die tatsächliche gelebte Führung unterscheidet sich erheblich vom geforderten Ideal. Die Führungskräfte passen ihre Wahrnehmung an und leben so in einer falschen Überzeugung oder in permanenter Zerrissenheit und dem Gefühl des Fremdgesteuertseins.

In einem Punkt scheinen sich dann wiederum alle einig: »Eine(r) führt, die anderen folgen.« Das ist zementierter Glaube in den meisten Unternehmen. Eine Führungskraft muss es geben, damit eine Organisation überhaupt funktionieren kann – das glauben Führungskräfte und Mitarbeitende gleichermaßen. Das stelle ich immer wieder fest, wenn ich mit Gruppen Arbeitssimulationen mache und am Ende einer Aufgabe frage, wie Führung stattgefunden hat. Sofern keine formale Struktur vorgegeben wurde, lautet die Antwort in der Regel: »Gar nicht.« Dann hake ich nach, woran die Betreffenden das festmachen, und bekomme die Antwort: »Sonst hätte es eine Person gegeben, die sagt, wo es langgeht und was wie zu tun ist.« Auch wenn in einer solchen Simulation die Aufgabe nur unbefriedigend gelöst wurde oder zwischendurch Irritationen entstanden, ist die Antwort auf »Was hätten Sie gebraucht?« unisono: »Eine Führungskraft.« Die Führungskraft weiß, wie es geht, und sorgt für einen reibungslosen Ablauf, ist der Glaubenssatz dahinter. Diese Idee von Führung sitzt fest in den Köpfen der Menschen und wird nicht hinterfragt. Angebote, mal einen anderen Gedanken zu denken, werden höflich, aber bestimmt abgelehnt, so als begäbe man sich auf die dunkle Seite der Macht, wenn man auch nur darüber nachdächte, darüber nachzudenken.

Was ist denn das Verständnis von Führung in vielen tradierten Unternehmen? Unterm Strich bleiben: Ergebnisse liefern und die Mannschaft unter Kontrolle halten. Hier entstehen allerdings Dissonanzen, denn soziale Systeme lassen sich nicht zentral steuern oder kontrollieren. Das wissen und spüren auch viele Führungskräfte, doch fehlt weitestgehend das systemische Verständnis und eine Idee, wie Erfolg dann gelingen kann. Die Konsequenz sind leider Führende, die noch intensiver über noch kleinschrittigere Ziele zu führen versuchen und ihre Mitarbeitenden kontrollieren. Das schließlich lernen sie als Management kennen; und da die Begriffe »Führung« und »Management« fast überall als gleichbedeutend genutzt werden, tun die Führungskräfte genau das, was in dieser Rolle von ihnen erwartet wird.

Ach ja, das Wort »Kontrolle« steht vielerorts auch auf der Streichliste, und mit der Entdeckung des Potenzials der Mitarbeitenden werden diese in den Mittelpunkt gestellt und zufrieden gemacht. Denn, so heißt es in vielen Büchern und Ratgebern, zufriedene Mitarbeitende leisten gerne und quasi freiwillig. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bin sehr dafür, dass alle Menschen in Unternehmen zufrieden und motiviert sind. Aber nicht als Selbstzweck. Es wird immer Aufgaben geben, die einfach gemacht werden müssen. Zurück zu den zufriedenheitsschaffenden Führenden. Jetzt muss die Führungskraft es nur noch schaffen, dass die Mitarbeitenden die Unternehmensziele zu ihren eigenen machen – und zack, baden alle gemeinsam in der Glückseligkeit des immerwährenden Erfolges.

In diesen hohlen Phrasen stecken gleich mehrere unsinnige Annahmen. Zufriedenheit ist nicht der Zweck eines Unternehmens, und der unterstellte monokausale Zusammenhang zwischen Mitarbeiterzufriedenheit und Erfolg des Unternehmens vereinfacht zu stark, weshalb diese ultimative Forderung Quatsch ist. Zudem ist der Blickwinkel personenorientiert, getreu dem Motto »Mach die Einzelnen zufrieden, dann ist auch für das große Ganze gesorgt«. Die Trivialisierung klingt zwar verlockend, schliddert aber am Kern von Organisation völlig vorbei. Die Anforderung, die so an Führungskräfte gestellt wird, ist nicht erfüllbar. Steuernd für Ergebnisse zu sorgen und gleichzeitig die Mitarbeitenden glücklich zu machen, ist ein Paradoxon.

»Herausforderungen« gibt es für Führungskräfte ohnehin genug. Gerade in den letzten Jahren häufen sich starker Wettbewerb, mangelnde Innovationskraft oder auch Mitarbeitende, die Dienst nach Vorschrift machen, um nur einige zu nennen. Die Antwort auf diese Problemstellungen wird meist in der Führung gesehen. Die Führungskräfte sollen und wollen dann jetzt mal all die Ideen aus den Köpfen der Mitarbeitenden extrahieren oder diese zu mehr Eigenverantwortung und Engagement (modern heißt das Intrapreneurship) erziehen oder für ein höheres Tempo sorgen. Mit Verlaub, das ist mit linearer Denke und mehr Kontrolle nicht machbar. Das spüren die handelnden Menschen auch, und so bedient man sich bei den unzähligen Führungsmoden. Beispielsweise wird agile Führung auf den Plan gesetzt, dann soll das wohl klappen mit dem Engagement.

So jedenfalls dachte auch die Geschäftsführung eines mittelständischen Unternehmens aus der Gesundheitsbranche. Probleme: Mitarbeitende finden und wachsender Wettbewerb am Markt. Rahmenbedingungen: wirtschaftlich sehr erfolgreich, stark standardisierte Prozesse, Anerkennung über Titel und Position in der formalen Hierarchie. Vermeintliche Lösung: agile Führung. In intensiven Diskussionen mit der Geschäftsleitung und vielen der Führungskräfte zeigte sich, dass »agile Führung« für sie bedeutete, einfach nur schneller zu werden und bei den Mitarbeitenden mehr Eigenverantwortung einzufordern. Der Plan zur Umsetzung lautete: Jede Führungskraft trägt das ins jeweilige Team und motiviert die Mitarbeitenden zu mehr Initiative und Verantwortungsübernahme. »Verantwortung« hieß in dem Kontext, dass die Mitarbeitenden mehr Entscheidungen treffen sollen, um schneller zu werden.

Führung bedeutet: Bedingungen schaffen, unter denen die Mitarbeitenden erfolgreich arbeiten können

Um zu entscheiden, trifft jeder Mensch Annahmen, und zwar unter Ungewissheit. Sind die Annahmen nicht richtig oder passend, werden Fehlentscheidungen getroffen. Und da waren wir an einem Knackpunkt, denn die Führungskräfte diskutierten nur noch, wie man es schaffen könne, dass die Mitarbeitenden nicht zu viele Fehler machen, also Fehlentscheidungen treffen. Es soll doch möglichst mit einer Fehlerquote von Null gearbeitet werden. Ansonsten sollte eh alles beim Alten bleiben; die eigene Rolle und das eigene Verständnis von Führung zu hinterfragen, war nicht möglich. Natürlich erarbeiteten wir, was Führung bedeutet, wenn man Kundenzentrierung ernst nimmt. Spätestens da war offensichtlich, dass die Forderung der Geschäftsführung vor allem für eines sorgt: noch mehr Dissonanz und Schizophrenie. Der Versuch, im bisherigen Rahmen der Organisation (quasi) agil zu führen, um Ziele wie Effizienzsteigerung zu erreichen, ist nicht nur den Mitarbeitenden gegenüber unfair, sondern stellt auch die Führungskräfte vor eine unlösbare Aufgabe. Führung besteht eben nicht darin, der beste Animateur im Klub zu sein, sondern Bedingungen zu schaffen, die die Ziele erfüllbar machen. Die Geschäftsführung entschied, dass Agilität wohl nichts für ihr Unternehmen sei. Vermutlich werden nun weitere Moden anprobiert und eventuell Probe getragen.

Führung für alle Fälle

»Welchen Führungsstil halten Sie denn für den richtigen in der heutigen Zeit?«, werde ich häufiger gefragt. Meine Antwort darauf ist für die Fragenden unbefriedigend: »Den zum Kontext passenden.« Das meine ich selbstverständlich nicht böse, aber ernst. Es gibt keine konfektionierte Art von Führung, die man sich überziehen kann wie ein Kleidungsstück, um dann einen guten Job zu machen. Trotzdem erblicken bald wöchentlich »neue« Führungsideen das Licht der Unternehmenswelt. Als Heilsbringer angepriesen, werden sie von den Menschen in den Unternehmen aufgesogen und ausprobiert. Das Schlimmste, was Sie als Führungskraft tun können, ist, laufend einen neuen Führungsstil »auszuprobieren«, nur weil er eventuell gerade modern klingt. Für viele Führende scheint der Gedanke leider jedoch gar nicht abwegig, denn sie agieren personenorientiert und sind überzeugt, dass jetzt die Mitarbeitenden eher empathische Führung als agile brauchen oder umgekehrt. So wird fröhlich immer mal wieder ein neuer Führungsstil ausgerufen. Vergessen wird dabei leider, den Kontext der Organisation zu betrachten. Dieser aber ist entscheidend für die passende Art zu führen.

Jetzt ist ein guter Zeitpunkt für Sie, zu reflektieren, welcher Führungsstil wohl Ihre Art und Weise des Führens benennt. Hier eine Auswahl der amtierenden Stile:

image Digitale Führung

image Disruptive Führung

image Inspirationale Führung

image Soziale Führung

image Sinn- und werteorientierte Führung

image Agile Führung

image NextGen-Führung

image Partizipative Führung

image Integrative Führung

image Vernetzte Führung

image Innovative Führung

image Charismatische Führung

image Autoritäre Führung

image Demokratische Führung

image Laissez-faire-Führung

image Transaktionale Führung

image Transformationale Führung

image Authentische Führung

image Situative Führung

Der grundlegende Denkfehler: Eine(r) führt, die anderen folgen

Jeder einzelne Stil verspricht, ganz bestimmte Probleme zu lösen beziehungsweise ein »Mehr von …« möglich zu machen. Jeder einzelne verspricht, jetzt aber wirklich der richtige, zeitgemäße und erfolgsgarantierende zu sein, und viele schaffen den Weg zumindest bis in die Personalbereiche der Unternehmen. Da wird dann überlegt, welche Art von Führung man nun ausrufen möchte und wie man all die »verkehrt führenden« Führungskräfte in die entsprechenden Schulungen bekommt, Nachhaltigkeit inklusive. Und so nimmt das Gefühl, ferngesteuert zu werden, bei den Einzelnen weiter zu, während die Organisation mantraartig wiederholt, dass es jetzt neue Führung braucht. Die Schizophrenie verschlimmert sich. Egal, welches Prädikat dem Begriff »Führung« vorangestellt wird, der grundlegende Denkfehler steckt nach wie vor in allen Ansätzen: nämlich dass eine(r) führt und die anderen folgen. Damit das möglichst alle gleich machen, wird irgendwann ein Leitbild entwickelt und, wenn man was auf sich hält, veröffentlicht. Das löst kein einziges Problem, ist aber modern.

Wir brauchen ein Führungsleitbild!?

Haben Sie in Ihrer Organisation auch eines? Wenn ja, was bewirkt es? Wenn es dazu dient, den Diskurs über Führung und darüber, wie Sie zusammenarbeiten wollen, lebendig zu halten, gehören Sie zu einer Minderheit. Üblicherweise wird der Ordner mit den Leitlinien vom HR-Bereich erstellt und nur zu Schulungszwecken aus dem Regal geholt, dann verkündet und wieder weggestellt. Trotzdem glaubt man in vielen Organisationen daran, dass ein Führungsleitbild zu irgendetwas anleitet. So individuell die Unternehmen sich sehen möchten, so ähnlich sind sich aber die Ausformulierungen der Leitbilder:

image Vorbild sein und dadurch Vertrauen gewinnen

image Leistung ermöglichen

image Fördern und fordern durch Anerkennung und Kritik

image Offen sein für Menschen und Kulturen

image Konsequentes Handeln

image Führen durch klare Ziele

image Mitarbeitende entwickeln

image Veränderung wagen

image Unternehmerisches Denken und Handeln

image Wertschätzung und respektvoller Umgang miteinander

Hier wird (mal wieder) beschrieben, wie man die Welt gerne hätte. Das ist Wunschdenken und bewirkt nichts. Leitbilder werden aufwendig erarbeitet, von einer Kommunikationsagentur hübsch gestaltet, in Schulungen verbreitet, auf Würfel oder Kaffeebecher gedruckt und dann wird auf das Eintreten des gewünschten Ergebnisses gewartet. Aber, oh Wunder, die Führung verändert sich nicht, es bleibt alles beim Alten.

Gleichzeitig bekommt jede Organisation regelmäßig gespiegelt, wie weltfremd manche Leitsätze sind. Neue Führungskräfte nämlich, die noch nicht lange im Unternehmen sind, sitzen in den Trainings und wissen intuitiv, was davon Utopie ist und was tatsächlich mit dem Leben im System etwas zu tun hat. Dieser kurze Moment von Beobachten und Erkennen wird aber so gut wie nie genutzt, denn »was wissen die Neuen schon«? Nach einer Weile hat jede Führungskraft gelernt, dass Leitlinien zum Abheften und Vergessen gemacht sind, spätestens wenn sie dem echten Leben begegnen. Und kommt doch mal jemand auf die Idee, sich so zu verhalten, wie in den Leitlinien formuliert, wird er oder sie sicher keine Karriere in dem Unternehmen machen, denn dieses Verhalten ist nicht systemkonform.

Werfen Sie mal einen kritischen Blick auf die Formulierungen Ihres Leitbildes. Wie konkret sind denn die dort niedergeschriebenen Verabredungen? In den entsprechenden Workshops dazu werden fast nur Allgemeinplätze formuliert, die so trivial sind wie meine Beispiele. So werden sie denn auch, wann immer notwendig, frei interpretiert und irgendwann Opfer des Zynismus. Dann nämlich, wenn »Bei uns steht der Mitarbeitende im Mittelpunkt« übersetzt wird in »… und damit immer im Weg« oder »Der Mitarbeitende ist Mittel. Punkt«.

Die Führungsleitbilder vieler Unternehmen sind auf den entsprechenden Webseiten zu finden, wobei man sich fragt, was das die Öffentlichkeit interessiert. Am Ende werden die so ausgeklügelten, wohlklingenden Phrasen als Marketinginstrument benutzt. Schaut mal, wie gut wir führen. Und so sind sie wenigstens für irgendwas gut. Warum aber hält eine Organisation an etwas fest, was keine Wirkung erzeugt und im schlimmsten Fall zum Running Gag mutiert? Es ist wohl Hoffnung. Die Hoffnung der Menschen, die Lösung ihrer Probleme läge in der Führung – und wenn die von den Führungskräften anders gelebt würde, würde sich alles zum Guten wenden. Dahinter steht in der Regel ein lineares und personenorientiertes Denken. Hat man sich einmal für ein Führungsleitbild entschieden, wird dieses nicht wieder aus dem Programm genommen, vielleicht in dem Glauben, dass es irgendwann etwas bewirken muss.

Sie merken schon, ich steige nicht in das übliche Manager- und Führungskräfte-Bashing ein, das die Menschen durchaus geringschätzend als Energieräuber, Feiglinge oder Psychopathen tituliert. Denn auch das ist eine Fixierung auf die Einzelnen. Wenn es aber um »schlechte Führung« geht, dann geht es nicht um einige wenige, sondern um Massenversagen; und das ist nicht in der Persönlichkeit der Führungskräfte begründet, sondern im System. Auch ich beobachte oft unglaublich unpassendes Führungsverhalten, und zwar auf allen Ebenen. Zugleich bin ich zutiefst davon überzeugt, dass Führungskräfte genauso rollen- und systemkonform agieren wie alle anderen Mitarbeitenden auch. Sie tun das, was für sie in diesem Kontext Sinn ergibt. Vermitteln wir ihnen nun fortlaufend, dass sie das Falsche tun, sagen wir implizit, dass sie blöd sind. Auf Dauer setzt das die Führungskräfte in eine immer größer werdende Dissonanz. Die Organisation als Ganzes wird immer kränker, predigt sie doch laufend, was gar nicht machbar ist, außer vielleicht für Superman.

Die ewigen Helden

Führen wie Steve Jobs, Elon Musk, Bill Gates oder Jeff Bezos? Sie alle sollen so ihre Macken haben oder gehabt haben, zeigten sich als Choleriker, Pingelköppe oder Ausbeuter, und gleichzeitig wollen die Menschen für und mit ihnen arbeiten. Die Vision, die sie eint: die Welt besser machen. In der Biografie zu Bezos finden sich viele Anekdoten, die ihn wie einen modernen Sklaventreiber wirken lassen. So soll es in den ersten Tagen von Amazon keine Tische gegeben haben, sodass die Leute auf dem Estrich saßen und Pakete packten. Ein Mitarbeitender hat sich bei Bezos darüber beklagt und zur Antwort bekommen, er solle sich gefälligst Knieschoner anziehen, wenn ihn das störe. Ein paar Tage später hat er dann doch Tische besorgt. Bezos hat, wie die anderen Herren auch, sein Unternehmen groß gemacht, aus dem Nichts ein florierendes Geschäft entwickelt und Vermögen generiert. Vor diesem Hintergrund lassen sich tolle Geschichten erzählen, klar. Gefeiert werden sie für die Innovationen und wirtschaftlichen Erfolge, trotz – nicht wegen – ihrer Art zu führen. Deshalb hinken diese Vergleiche nicht nur, sondern sind unfair gegenüber all den Führungskräften, die im System zum Verwalter gemacht und von der öffentlichen Meinung genau dafür gescholten werden.

Die Geschichte des Helden hören wir gerne, und noch viel lieber wären wir einer von denen, die Großartiges erschaffen und dafür gefeiert werden. Nur sind die Erfolge im Falle Jobs, Gates, und wie sie alle heißen, gar keine Einzelleistungen. So wie in all den Maschinenbau- und Versicherungsunternehmen, Autohäusern, Handelsketten, IT-Systemhäusern, Krankenhäusern, Telekommunikationsunternehmen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften kein einzelner Mensch das Zünglein an der Waage von Erfolg oder Nichterfolg ist. Erfolg (was immer auch darunter verstanden wird) ist eine Kollektivleistung. Nichts, was wir planen, tun, kommunizieren oder denken, ist losgelöst entstanden, weshalb die Idee vom Helden zwar nett, aber letztlich falsch ist.

So kann man der Führungskraft, die von den Mitarbeitenden eigene Entscheidungen fordert und gleichzeitig Mikromanagement betreibt, genau das zwar vorhalten. Schaut man genauer hin, dann ist die Organisation so strukturiert, dass jedes Detail aller Vorgänge immer auch an das obere Management berichtet werden muss. Was also bleibt der Führungskraft anderes übrig, als ständig alle möglichen Informationen abzufragen. »Sie kann doch dagegen arbeiten und dafür sorgen, dass sich das ändert«, könnte man einwenden. Klar, einen Versuch ist es wert. Findet das Anliegen keine Resonanz im System, wird nichts passieren. Lässt die Führungskraft nicht nach und probiert immer weiter, beginnt sie einen Kampf gegen das System. Der ist schon verloren, bevor er richtig begonnen hat.

Das Hauptdilemma, in dem ich viele Führungskräfte im Moment sehe, besteht darin, dass sie Veränderungen treiben sollen, aber unter Beibehaltung aller Strukturen, Methoden, Prozesse und Verfahren. Das nennt man eine unlösbare Aufgabe. Alles Grundsätzliche beibehalten und gleichzeitig etwas verbessern, beschleunigen, effizienter oder was auch immer machen, ist Optimierung. Die Erwartungen aber sind Innovation, Disruption, organisationale Veränderung & Co. Die zu erfüllen, gelingt nur mit Veränderungen zweiter Ordnung, und das bedeutet, an die Struktur zu gehen. Solange Führung in einem Unternehmen darauf angelegt ist, zu verwalten und Kennzahlen zu messen, gibt es für die Führungskräfte den Spielraum der Strukturdiskussion gar nicht. Da helfen auch Leitbilder und Führungsmoden nicht. Man muss schon die grundlegende Krankheit behandeln.

Führung muss sich verändern, weil die Welt komplexer geworden ist

Die zentrale Frage, die in vielen Debatten um die modernen Führungsideen nicht beantwortet wird, möchte ich hier noch mal deutlich machen: Wozu braucht es überhaupt andere Führung als eine, die darauf setzt, »Ordnung zu halten«? Die Antwort hat nichts zu tun mit Gutmenschentum, einer angeblichen Generation Y, die ja so anders geführt werden will, oder einem Wesen namens Digitalisierung. Die Antwort gibt uns der Markt. Die Veränderung von Führung ist getrieben über die gestiegene Komplexität des Marktes und in einem komplexen Markt muss man komplex agieren. Wenn uns viele Möglichkeiten begegnen, brauchen wir ebenso viele Möglichkeiten zu reagieren. Dieser Gedanke folgt Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät.

Auf den Punkt gebracht, sind die wesentlichen Schizophrenie-Treiber:

image der Glaube, Führung hänge an einer Person,

image die Erwartung »one size fits all« – dass Führungskräfte alles können müssen,

image ein künstliches Leitbild ohne Bezug zur gelebten Organisation,

image der Glaube, gute Führungskräfte seien Helden,

image ein überholtes Bild vom Menschen.

Pathogenese

Management = Führung

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Die Fachwelt streitet noch, wer die Definitionshoheit für den Begriff »Führung« besitzt. Ob es John P. Kotter oder James M. Burns war, ist aus meiner Sicht nicht wesentlich. Viel wichtiger ist es, Führung und Management zu unterscheiden, denn es sind zwei Rollen mit unterschiedlichen Aufgaben. Management, als Funktion, beinhaltet Zieldefinition, Strategieentwicklung, Planung, Organisation und Kontrolle von Abläufen. Manager sind also eher Verwalter. Führung dagegen bedeutet, zu inspirieren, den Raum für Kreativität zu schaffen und motivierend zu agieren. Führende sind Visionäre. Folgt man dieser Unterscheidung und schaut dann auf Steve Jobs im Vergleich zu einer beliebigen Führungskraft im mittleren Management einer tradierten Konzernstruktur, ist glasklar, wer Managender und wer Führender ist.

Die meisten Führungskräfte sind Manager, erstens weil von ihnen im Wesentlichen erwartet wird, die größtmögliche Effizienz aus einem Unternehmen zu pressen, und zweitens weil immer noch die mit der höchsten Expertise zur Führungskraft ernannt werden. Also doch die falschen Menschen auf den Positionen? Ja, aber das Problem sind nicht die Menschen, es ist ein systemisches. Eine Organisation, die vor allem Wert auf Effizienz und Kostensparen legt und daran glaubt, zentral steuern zu können, braucht Manager, die KPIs erfüllen, Vorgaben beachten und kontrollieren, dass niemand ein teures Hotelzimmer bucht. Deswegen finden sich Führungspersönlichkeiten in diesen Organisationen auf Dauer nicht. Zudem wird oft über Expertise Karriere gemacht. Wer fachlich gut ist, wird Boss. Diese Vorgehensweise ist alles andere als ein Garant für gute Führungskräfte. Menschen, die in einem Fachgebiet tiefe Expertise haben, sind nicht gleichzeitig unbedingt Menschen mit Visionen, die sie gerne mit anderen teilen. Um es auf den Punkt zu bringen: Für die Bestandsverwaltung, in geregelten Prozessen, auf Tempo und Ergebnisse ausgerichtet, braucht es Manager. Überall dort, wo es um Veränderung, Komplexität, Disruption und Innovation geht, braucht es Führende. Davon haben wir zu wenig.

Eine Ursache der Führungsschizophrenie liegt also darin, dass es sich gar nicht um Führung, sondern um Management handelt. Das, was momentan allerorten stattfindet, der Versuch nämlich, aus Managenden Führende zu machen, führt bloß zu noch mehr Schizophrenie, bei den Menschen und der gesamten Organisation.

»Great leaders are born, not made«

Gute Führung ist bestimmt durch angeborene Eigenschaften und nicht über erworbene Fähigkeiten – dieser Glaube hat sich ab dem 19. Jahrhundert verbreitet, befeuert von Historikern wie Thomas Carlyle. Seiner Meinung nach ist Weltgeschichte nur die Sammlung von Biografien großartiger Männer. Und es waren ausnahmslos Männer, gefeiert wegen ihrer Verdienste in kriegerischen Auseinandersetzungen. Julius Caesar, Alexander der Große, Abraham Lincoln oder Mahatma Gandhi. Bei vielen großen Führungspersönlichkeiten scheint es so, als ob sie aus dem Nichts gekommen wären, die Kontrolle übernahmen und so die Menschen in Sicherheit und Erfolg führten. Die »Great-man«-Theorie beruht auf zwei Grundannahmen:

image Große Führungspersönlichkeiten werden mit bestimmten Eigenschaften geboren, die es ihnen ermöglichen, sich zu erheben und Menschen anzuführen.

image Große Führungspersönlichkeiten können dann wirken, wenn das Bedürfnis nach Führung groß ist.

Es gibt in unseren Unternehmen keine heroischen Einzelleistungen, alles ist Teamarbeit

Sie sind Helden, die Regeln brechen, auch Unmögliches bewältigen und dafür von ihren Mitmenschen bewundert werden. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war diese Theorie vorherrschend, wenn es um das Verständnis von Führung ging. Heute gibt es, Gott sei Dank, auch andere Blickwinkel darauf, insbesondere die Annahme, dass sich Führung lernen lässt. In den Köpfen vieler Führungskräfte, aber auch der Mitarbeitenden sitzt jedoch immer noch das Bild des oder der einen. Menschen, die andere führen, seien besonders gut, schlau, visionär, gründlich, was auch immer. Auf jeden Fall seien sie besonders, anders als die anderen und deshalb führen sie. Diese Vorstellung speist sich vielleicht nach wie vor aus der Hoffnung auf eine Heldengeschichte. Es gibt in der Komplexität unserer Unternehmen keine heroischen Einzelleistungen, alles ist letztendlich Teamarbeit, Teamerfolg und Teammisserfolg. Menschen, die ernsthaft glauben, einen steuernden Durchgriff auf eine Organisation zu haben, sind zumindest größenwahngefährdet. Sie bleiben bei der Personenorientierung und dem alten Glauben an den »great man«. Das passt aber nicht in unsere komplexe Welt, die ein Verständnis für Systeme und deren Dynamiken braucht statt ein Festhalten am Bild des einsamen Helden.

Veraltetes Menschenbild

»Meine Mitarbeiter wollen einfach keine Verantwortung übernehmen, die kommen mit jeder Kleinigkeit zu mir.«

»Ich lasse meinen Mitarbeitern schon viel Spielraum, solange die richtigen Ergebnisse rauskommen.«

»Die zwei Älteren wollen auch gar keine Veränderung mehr, die warten auf die Rente.«

»Führungskraft zu sein, ist schon schön, wenn die Mitarbeiter nicht wären.«

»Mir ist es wichtig, die Kommunikation zu steuern, nicht alle Mitarbeiter können mit den Informationen richtig umgehen.«

Das sind Aussagen von Menschen in Führungspositionen, wie sie mir leider oft begegnen. Sie geben Hinweise darauf, was die Damen und Herren Vorgesetzte über Mitarbeitende, sich selbst und ihre Rolle denken. Sie offenbaren, was sie über das Wesen des Menschen glauben. Okay, hat eben jeder Einzelne sein Menschenbild, das Basis seines Denkens und Handelns ist, könnte man denken. Doch auch eine Organisation hat ihr Menschenbild – und danach werden die Strukturen, Prozesse und Führungsinstrumente geschaffen und genutzt. Es ist überindividuell und sorgt für ein gemeinsames Verständnis: »So geht Führung hier.« Dabei findet sich nicht jede Führungskraft in jedem Detail wieder, auf der generellen Ebene aber schon. Immer wieder erlebe ich auch Führende, die neu in ein Unternehmen kommen, die dortige Führungskultur kennenlernen und dann feststellen, dass ihr Verständnis ein anderes ist. Was folgt, ist entweder eine Assimilation oder ein Kampf gegen das System, Letzterer endet irgendwann durch Trennung.

Das Bild vom Wesen des Menschen, das die Organisation hat, entscheidet darüber, welche Strukturen und Instrumente für notwendig gehalten werden und welche Vorstellungen man darüber hat, wie Zusammenarbeit funktioniert. Die Organisation vermittelt den Mitarbeitenden gleichzeitig, sich genau so zu verhalten. Und damit sind wir bei einer Antwort auf die Frage, warum zwar agile, disruptive oder sonstige moderne Führung gefordert wird, die tatsächlich gelebte aber im Industriezeitalter stecken geblieben ist: Das Menschenbild wurde in vielen Unternehmen seit Jahrzehnten nicht aktualisiert, es läuft noch auf Version 1.0. Sobald die Diskussion um das Menschenbild ansteht, dann meist auf Basis der sogenannten X-Y-Theorie von Douglas McGregor (1960). Genauer gesagt, geht es hier um zwei Theorien beziehungsweise zwei Menschenbilder.

Theorie X

Die Menschen haben keine Lust, zu arbeiten, sondern sind vor allem auf Sicherheit bedacht und übernehmen nur ungern Verantwortung. Kontrolle und direktive Führung sind notwendig.

Theorie Y

Menschen arbeiten gerne, besonders wenn der Sinn dahinter klar ist. Sie wollen sich einbringen und verwirklichen. Partizipative Führung ist angesagt.

Nach der X-Theorie ist der Mensch nur mit Incentivierung zur Arbeit zu bewegen, nach der Y-Theorie hingegen ist er grundsätzlich motiviert und verantwortungsvoll. McGregor selbst hatte eine klare Präferenz für die Y-Theorie, der zufolge Führung kooperativ sein und die Selbstverantwortung der Mitarbeitenden gestützt werden sollte. Gerade in der Debatte um Agilität ist das (wieder) topaktuell.

Um es an dieser Stelle unmissverständlich zu machen: X und Y sind nicht verschiedene Typen von Menschen. Es sind die verschiedenen Sichtweisen einer Führungskraft auf Mitarbeitende. Höre ich Menschen mit Führungsverantwortung zu und schaue ich auf die Mechanismen und Instrumente von Führung in der Organisation, wird das zugrunde liegende Menschenbild sichtbar – und es ist fast immer noch Menschentyp X. Solange eine Organisation daran glaubt, dass Menschen kontrolliert und kleinschrittig angeleitet werden müssen, braucht sie nicht gleichzeitig für agiles Management, Demokratisierung oder Ähnliches zu plädieren. Ihr Menschenbild wird diese Veränderung verhindern.

Behandlung

Die passende Rolle

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Führung oder Management, das ist hier die Frage. Die Rollen müssen definiert und unterschieden werden, in Abhängigkeit vom Kontext. Welcher Art sind die Probleme und Aufgaben, die Sie lösen? Bewegen Sie sich in einem stabilen, geregelten Umfeld, dann müssen Sie das Managen beherrschen. Also sind Ihre Aufgaben Steuern und Regeln über Ziele, Planung und Controlling. Ist das Umfeld komplex, geht es um Veränderung und Transformation? Dann müssen Sie führen. Ihre Aufgaben sind dann, zu inspirieren, gemeinschaftlich die Frage nach dem Warum zu klären und intelligente Entscheidungen zu treffen. Es geht darum, dass ein Team gemeinsam auf ein Ziel hinarbeitet. Die Betonung liegt auf »gemeinschaftlich«, denn keine Führungskraft ist allein intelligent genug, um die Komplexität zu meistern. Sie muss vielmehr die Vernetzung zwischen den Bereichen und Menschen gestalten, mit ihnen gemeinsam Zusammenhänge verstehen und Einsichten erzielen. Sind die beiden Rollen klar, kann geschaut werden, in welchem Kontext welche Rolle passend ist, und erst danach kann ein Mensch diese Rolle im klassischen Sinne formaler Führung ausfüllen. Zwingende Voraussetzung ist, dass die Bedingungen (Struktur und mentale Modelle der Organisation) dies auch hergeben. Sonst können Sie noch so visionäre Menschen engagieren, es wird nichts nützen und diejenigen mit Weitblick und Lust auf Visionen gehen wieder.

Führung ist …

… Selbstorganisation zulassen. Und Selbstorganisation braucht Führung.